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Gewalt an Frauen ist das Leitmotiv der amerikanischen Kriminalliteratur

 

Pieke Biermann im Gespräch mit Sara Paretsky (1991)

 

Pieke Biermann: Kennst du Dorothy Parker?

Sara Paretsky: Ah - wie? Persönlich nicht - wieso?

Pieke Biermann: War nur so eine Idee. Ich finde, V.I. Warshawski hat eine Ähnlichkeit mit ihr...

Sara Paretsky: Mit Dorothy Parker? Aber die war zierlich, damenhaft, kapriziös...

Pieke Biermann: ... und die bissigste Feuilletonistin im New York der zwanziger Jahre. Klar. Aber sie hatte, wie ihre Freundin Lillian Hellman ihr nachsagt, einen "extrem schlechten Geschmack in Sachen Männer, selbst für eine Schriftstellerin".

Sara Paretsky: (lacht in der Tonlage eines vergrippten Transistors)

Pieke Biermann: Und V.I. hat auch nicht gerade das glücklichste Händchen.

Sara Paretsky: Das stimmt.

Pieke Biermann: Sie greift gerne daneben und vor allem: sie bleibt bei keinem Mann. Das ist doch kein Zufall - oder?

Sara Paretsky: Wie ist das denn bei deiner Ermittlerin?

Pieke Biermann: Quotiert. Ich habe ein Team. Und dessen Sex-Leben gehörte zum ersten, worüber ich mir Gedanken gemacht habe.

Sara Paretsky: Ich anaylsiere meine Bücher sehr ungern.

Pieke Biermann: Aber du machst es trotzdem, eine Serienfigur muß man planen, jedenfalls am Anfang.

Sara Paretsky: Ich habe immer Angst, wenn ich zu sehr an Mechanismen herumbastele, brechen sie mir unter den Fingern weg. Ich will auch gar nicht wissen, was mich, vielleicht unbewußt, beim Schreiben motiviert. Beim Beschreiben von V.I.s Männern, zum Beispiel.

Pieke Biermann: Und beim Beschreiben von V.I.s Sex-Leben? Denn sie hat ja eins, ein sehr selbstbewußtes.

Sara Paretsky: Naja, du hast bei einer Serienfigur immer ein literarisches Problem: Sie ist für den Leser höchst intim. Du bringst dem Leser eine Art Lover ins Haus. Und Leser neigen zu Eifersucht oder fühlen sich verraten oder übergangen.

Pieke Biermann: Also ist V.I.s Alleinsein eine Art vorauseilender Bedürfnisbefriedigung, eine Garantie: Lieber Leser und liebe Leserin, keine Angst, deine literarische Liebhaberin soll dir und nur dir erhalten bleiben? Was sagt denn die Feministin in dir dazu?

Sara Paretsky: Wieso? Ich sehe V.I. einfach als single.

Pieke Biermann: Einfach so? Oder mit einem Augenzwinkern in Richtung feministisches Publikum?

Sara Paretsky: Also, wohin zwinkere ich denn nun, deiner Meinung nach?

Pieke Biermann: Ich weiß nicht, ob du überhaupt zwinkerst. Das will ich ja gerade herausfinden. Aber ich vermute, daß sich V.I.s Qualität als Kultfigur, als "feministische Heroine", genau aus ihrer sexuellen Unabhängigkeit speist. Und - scheinbar paradox: Eben die macht sie auch für die, die einfach nur ein erotisches Phantasieobjekt brauchen, attraktiv.

Sara Paretsky: Ja, ich glaube, du hast recht. Aber das kann sich ändern. Ich hatte V.I. in meinem zweiten Buch (»Deadlock«, 1984/1988) sich verlieben lassen, und zwar heftig. Tja, und mit der Rohfassung hatte ich dann ziemliche Probleme. Ich mußte völlig neu anfangen, und das dickste Problem war diese Liebesgeschichte. Die hat einfach die ganze Energie aus der Story gesaugt. Seitdem habe ich da eine Art Ladehemmung. Aber das kann sich alles ändern. Ich denke nicht darüber nach. Ich denke überhaupt nicht viel nach über solche Dinge, mein Schreiben. Das kannst du doch schreiben, und dann können wir hier abbrechen und essen gehen.

Pieke Biermann: Nee, nee, nee.

Sara Paretsky: (steht auf, hält die Flasche Veuve Cliquot und schenkt nach.)

Pieke Biermann: (probiert die Verführung zum Reden durch Schweigen)

Sara Paretsky: Auf die Witwe!

Pieke Biermann: Kein Problem. Wieso trinkt V.I. eigentlich keinen Veuve Cliquot?

Sara Paretsky: Fängst du schon wieder an! Würdest du solche Themen auch mit Krimischreibern bereden?

Pieke Biermann: (trinkt und grinst)

Sara Paretsky: Oder redest du mit denen gar nicht?

Pieke Biermann: Kommt drauf an. Ich rede mit dir darüber, weil du selbst vor Jahren öffentlich über das traditionelle Frauenbild in Krimis von Männern zu reden angefangen hast. Und ich möchte gern wissen, ob es grundsätzliche Unterschiede gibt zwischen krimischreibenden Frauen und Männern und welche. Du hast immerhin eine ganze Organisation von solchen Frauen mit auf die Beine gestellt.

Sara Paretsky: Verdammt noch mal, ja! Ich saß 1986 in einer Jury für den besten Krimi des Jahres, vergeben von den Private Eye Writers of America. Ich hatte im selben Jahr an einer Konferenz über Kriminalschriftstellerinnen in New York teilgenommen, und bei der war es ziemlich schnell um Sadismus und Pornographie gegangen. Thriller haben immer pornographische Elemente gehabt, okay, aber eher "am Rande". Als ich aber die Jahresproduktion von 1985 gelesen hatte, mußte ich feststellen, daß nur ein einziges Buch darunter war, in dem dieser Sadismus nicht vorkam. Alle anderen Bücher, und vor allem die, die die dicksten Werbedollars gekriegt hatten, wimmelten von den gewalttätigsten Beschreibungen, seitenweise brutale Vergewaltigungen, Verstümmelungen, Morde. An Frauen. Und auch an Kindern.

Pieke Biermann: Du hast das alles gelesen?

Sara Paretsky: Ja, alles. Das schlimmste Buch war von einem, der auch noch Kinderpsychologe war. Ich habe mir beim Lesen immer vorstellen müssen, daß dieser Autor, der offensichtlich eine sadistische Freude am Ausbreiten von brutalsten Beschreibungen von Kindesmißhandlungen hat, genau auf die Opfer losgelassen wird. Ich habe mir vorstellen müssen, ich wäre die Mutter eines solchen Kindes und wüßte, es muß da hin, in "Behandlung".

Pieke Biermann: Und das hast du gesagt?

Sara Paretsky: Gesagt habe ich, öffentlich, daß ich mich weigere, für irgendeins von all diesen Büchern zu votieren. Daraufhin sind die Jungs vor Wut ausgerastet, und einer hat mich hinterher angefaucht, sie würden alles tun, was in ihrer Macht steht, damit ich nie einen Preis kriege.

Pieke Biermann: Du hattest ja schon einen, für »Deadlock«, 1985.

Sara Paretsky: Ja, die Jungs sind mächtig, aber nicht allmächtig. Mein viel größeres Problem war: Was mache ich jetzt mit diesen Büchern? Ich kann sie doch nicht verbrennen. Das geht nicht.

Pieke Biermann: Sagt die Historikerin in dir.

Sara Paretsky: Ja, aber ich würde es auch nicht übers Herz bringen. Bloß, in meiner Wohnung will ich sie auch nicht haben, das ist ja Umweltverschmutzung im Haus! Und wenn ich sie zum Trödler gebe, oder in die Mülltonne schmeiße, dann verschaffe ich ihnen sogar noch neue Leserschichten!

Pieke Biermann: Und das war der Beginn einer wunderschönen Organisation?

Sara Paretsky: Ach was, wünderschöne Organisation! Die Sisters in Crime? Die sind auch nicht mehr das, was sie mal hätten werden können.

Pieke Biermann: Aha. Daher weht der Wind.

Sara Paretsky: Nein. Ja. Ich kann das nicht in Worte fassen, es ist mehr ein Gefühl.

Pieke Biermann: Und in welche Richtung geht das?

Sara Paretsky: Naja, sie machen ein paar ganz brauchbare Sachen. ich will sie nicht in Grund und Boden mäkeln. Aber sie sind ein bißchen sehr scharf auf etabliertes Ambiente, Universitäten, Komitees, wo Stipendien und Einladungen vergeben werden von all diesen wohlhabenden, gepflegten Gattinnen, die immer im Trend liegen mit der jeweils "guten Sache"...

Pieke Biermann: Verlangen die auch Anpassung? Den "gepflegten" Krimi oder zumindest die gepflegte Autorin?

Sara Paretsky: Ja, irgendwie schon. Zu denen gehst du, übertrieben gesagt, eben am besten in Chanelkostüm und Glacéhandschuhen und bemühst dich um gepflegte Sprache.

Pieke Biermann: Solange es eine Inszenierung ist, um an die Kohle zu kommen? V.I. macht es doch nicht anders bei ihrer "feinen" Kundschaft. Gleichzeitig wälzt sie sich im Schlamm und prügelt sich eigenhändig mit Schmierlapps und Killern herum. Kann so eine Organisation für Krimischreiberinnen nicht auch beides gleichzeitig sein?

Sara Paretsky: Also, als ich mit dem ganzen Ding angefangen habe, hatte ich vor allem ein Motiv, und das war Neugier, mehr und Genaueres über das Bild von Frauen zu erfahren, das männliche Thriller von Frauen zeichnen. Wir haben in den USA ein alljährliches großes Festival, das wird von Krimifans gemacht und heißt Boucher Convention oder kurz BoucherCon. Das ist immer im Herbst, und für das 1986er Festival hatte ich ein Frühstück organisiert und alle Kolleginnen eingeladen, von denen ich dachte, es könnte sie interessieren. 25 sind gekommen.

Pieke Biermann: Und haben sich spontan ver-"schwistert"?

Sara Paretsky: Erstmal waren sie begeistert von der Idee, man könnte ja eine Organisation werden. Und eine war da, das ist überhaupt eine fantastische Frau, Dorothy Salisbury-Davis, 75 inzwischen, die kennt buchstäblich alle Krimi-Welt, und sie hat für enormen Zuwachs gesorgt. Ich habe dann einen Fragebogen gemacht, und sie hat ihn rumgeschickt: Was brauchen und was wollen Krimischriftstellerinnen?

Pieke Biermann: Ich vermute, in den USA eine Art ein-schlagende Verbindung, handfest, praktisch, gut?

Sara Paretsky: An einer Stelle, ja: Wir hatten den Verdacht, daß Krimis von Frauen viel seltener und wenn, dann kürzer in der Presse besprochen werden als die von Männern. Das hat sich später bestätigt. Und das sollte anders werden. Aber den meisten Kolleginnen ging es zunächst einfach um irgendetwas Netzwerkartiges, um ein bißchen "Kumpanei". Und drittens ging es um dieses Thema Sadismus, Frauenbilder, Gewalt.

Pieke Biermann: Zu der Zeit war doch auch der Höhepunkt der Antiporno-Kampagne bei euch. 1986 ist der Gesetzentwurf der Women Against Pornography vom Obersten Bundesgericht abgelehnt worden.

Sara Paretsky: Ja, ja. Das Thema war in allen Medien. Wir haben das auch zu spüren gekriegt, schon bei dieser Konferenz in New York und dann bei dem Treffen der SinC. Es gab einen Riesenkrach, und wir wurden beschimpft, Zensurmentalität zu haben.

Pieke Biermann: Weil ihr Frauen als Objekte von Männergewalt in Krimis untersuchen wolltet?

Sara Paretsky: Wir wollten es auch veröffentlichen, ich habe selbst dafür plädiert, daß wir nach Mitteln und Wegen suchen, um Verleger zu beeinflussen. Ich wollte, daß bestimmte Bücher nicht erscheinen oder daß die Werbung anders wird. Eigentlich will ich das heute noch. Andererseits, ich bin gar nicht der Typ für Zensur. Ich bin zutiefst gegen Zensur. Man kann nicht zensieren, auch nicht diese Art Scheißdreck, so sehr ich den hasse.

Pieke Biermann: Ist das wieder die aufgeklärte Historikerin, die dich zur Räson ruft?

Sara Paretsky: Die muß ich nicht bemühen. Meine eigenen Bücher wären einfach die nächsten, die der Zensur zum Opfer fielen.

Pieke Biermann: Und, drittens, machen, davon bin ich zutiefst überzeugt, Verbote etwas Unappetitliches erst richtig schmackhaft. Wie löst du denn das Dilemma, einerseits bestimmte Sachen nicht veröffentlicht sehen zu wollen, andererseits Zensur abzulehnen?

Sara Paretsky: Darüber grübele ich seit Jahren.

Pieke Biermann: Die gute alte Aufklärung?

Sara Paretsky: Ich frage mich eher: Was sagt uns das über unsere Wirklichkeit, daß unsere populäre Literatur so voll von Greueln ist? Für mich persönlich ist das eine Frage von Leben und Tod. Aber ich muß feststellen, für viele Leute ist sie das nicht. Und ich kann die doch dafür nicht einfach verachten.

Pieke Biermann: Diese Widersprüchlichkeit erinnert mich wiederum sehr an V.I. - hast du sie übrigens als hero, als Helden, konzipiert gehabt, bevor du angefangen hast?

Sara Paretsky: Als shero, hahaha! Willst du mich schon wieder zum Reden über das Schreiben bringen?

Pieke Biermann: Klar. Denn über die moralischen Fragen des Krimischreibens würde ich tatsächlich lieber Männer sich den Kopf zerbrechen hören. Victoria Iphigenia Warshawski ist ein weiblicher Held, ausgestattet mit allen möglichen modernen Widersprüchen, lebenslustig, sexy, tough, dickköpfig bis zur Schmerzgrenze, eine komplette Einzelgängerin, die auch noch selber ihre ejweilige Story erzählt. Ist sie eine radikal-feministische Hommage an die lonesome wolves der männlichen Tradition?

Sara Paretsky: Ja, ich glaube, als ich anfing, hatte ich etwas in der Tradition der "hartgesottenen Einzelgänger", mit einer Frau allerdings, im Sinn.

Pieke Biermann: V.I. ist Waise, kann einstecken wie austeilen, und vor allem löst sie alle ihre Fälle stets sauber, wenn auch mit ein paar Leichen mehr dazwischen. Soweit die Fortsetzung der Tradition. Andererseits hat sie zwei Bedingungen, die geradezu kitschig weiblich anmuten: Erstens, sie wird in ihre Fälle immer aus persönlichen Gründen, manchmal sogar aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen verwickelt.

Sara Paretsky: Das stimmt, und das ist mir erst vor kurzem aufgefallen. Für mich fängt die Arbeit an einem Roman immer mit einem Verbrechen an, mit der Idee eines Verbrechens, das so entsetzlich ist, daß an und für sich ordentliche Leute alles zu tun bereit sind, um zu verhindern, daß es herauskommt. Verbrechen, die von sogenannten ordentlichen Leuten begangen worden sind und begangen werden, von Leuten mit weißen Kragen und sauberen Westen. Und wenn ich das habe - die Schweinereien, mit denen Chemiefabrikanten die Gesundheit ihrer Angestellten aufs Spiel setzen wie in »Bloodshot« (1988/1990) - dann brauche ich eine überzeugende Möglichkeit, die Story zu erzählen. Bei »Bloodshot« habe ich sechsmal neu angefangen. Ich muß das machen, schon mein Algebralehrer in der Schule hat behauptet, ich arbeite "mit brutaler Kraft und Plumpheit". Ich bin nicht imstande, mir etwas im Kopf elegant zurechtzulegen. Und für mich selbst muß die Story aus persönlichen Beziehungen heraus entstehen, damit sie mich interessiert. Vielleicht ist das eine weibliche Art zu denken, vielleicht es es auch bloß meine eigene.

Pieke Biermann: Wir sind in unserer Generation ja wahrscheinlich alle durch die Schule namens "Das Persönliche ist politisch" gegangen. Und manche Leute behaupten, gerade populäre Literatur sei auch eine Art, das Politische in Persönliches zu übersetzten und damit erfahrbar zu machen. Sind das für dich Scylla und Scharybdis beim Schreiben?

Sara Paretsky: Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Aber wenn du diesen Satz vom persönlichen Politischen ernstnimmst, dann mußt du tatsächlich dich selbst von Grund auf neu denken, und für mich lag darin die Erkenntnis, daß in intimen Beziehungen, vor allem Familienbeziehungen, wohl wirklich alles anfängt. Und zweitens, ich glaube, daß man Hilfe wirklich nur auf sehr persönlicher Ebene bekommt, nicht auf der institutionalisierten.

Pieke Biermann: Heißt das, daß V.I. bestenfalls eine einzelne, vertraute Person sozusagen wieder "heil und ganz" zu machen schafft, während die verbrecherischen, zerstörerischen Institutionen doch immer so weiter machen wie gehabt? Würdest du das als programmatisch bezeichnen, obwohl es sehr resigniert klingt?

Sara Paretsky: Die Gerechtigkeit im Kleinen... Ach ja. Ich weiß nicht. Ich persönlich glaube, man muß weiter in den Institutionen arbeiten, an ihnen, gegen sie und all das. Das Schlimmste, was man machen könnte, wäre, ihnen den Rücken zu kehren und die Arschlöcher machen zu lassen. Und man kann sehr wohl ein paar Veränderungen sehen, es ist absolut zynisch zu behaupten, alles bleibe immer beim Alten, nichts verändere sich je.

Pieke Biermann: Die zweite Bedingung, die V.I. vom Dasein als klassischer einsamer Wolf fernhält, ist, daß sie sehr enge Freunde und Vertraute hat. Vor allem Lotty Herschel, die Freundin und Ärztin, und Mr. Contreras, den Nachbarn...

Sara Paretsky: Oh ja! Ich könnte den auch nicht aushalten?

Pieke Biermann: Nein? Aber einen Hund wie Mr. Contreras hast du selbst... Woher holst du deine Figuren?

Sara Paretsky: Ich mag schräge Charaktere, in dem Buch, an dem ich jetzt schreibe, zum Beispiel, gibt es eine alte Dame, eine fette deutsch-amerikanische, die wohnt in einem Teil von Chicago, der früher hauptsächlich deutsch war und nach und nach immer hispanischer wird. Die sitzt auf ihrer Veranda und wird ständig geärgert von ein paar mexikanischen Kindern, die einfach genau wissen, womit sie sie ärgern können. Solche Szenen schreibe ich am liebsten. Sie mit ihrem Feuerlöscher auf dem Schoß, wie sie hinter den Kids herspritzt. Das hat überhaupt nichts mit der Story zu tun, aber ich bin immer entzückt von solchen bizarren Leuten und Situationen. Außerdem kann ich mich da mit Chaucer trösten, der behauptet hat, das entscheidende an einer Geschichte seien die Abschweifungen. Also wandele ich in Chaucers Fußabdrücken, also kann ich keine ganz schlechte Schriftstellerin sein...

Pieke Biermann: Brauchst du denn solchen Trost? Bei deinem Erfolg?

Sara Paretsky: Ja.

Pieke Biermann: Immer noch?

Sara Paretsky: Immer noch. Ich hätte vielleicht wirklich gar nicht gewagt anzufangen, wenn ich nicht solche Unterstützung bekommen hätte - von meinem eigenen Mann!

Pieke Biermann: Herzlichen Glückwunsch! Aber hast du nicht auch, zum Beispiel, mal diese amerikanischen Schreibkurse mitgemacht?

Sara Paretsky: Jaja. "Wie schreibt man Detektivgeschichten". Aber ich habe nie Literatur studiert, nie schreiben gelernt und nie wirklich das sichere Gefühl: Ich bin Schriftstellerin. Ich habe immer noch eine Art Grandma-Moses-Komplex.

Pieke Biermann: Die naive Sonntagsmalerin? Willst du mir erzählen, du seist bloß eine "Sonntagsschreiberin"?

Sara Paretsky: (lacht) Ich weiß jedenfalls nie, wie ich das mache, was ich mache.

Pieke Biermann: Das allerdings machst du phantastisch. Ich beneide dich zum Beispiel um diese Balance zwischen Brutalität und Emotionalität, die du immer bis zum Äußersten ausreizt in deinen Büchern. Vom Leser aus gekuckt: Man wird ebenso in Atem gehalten durch die Gefahren für Leib und Leben, in die V.I. sich stürzt, weil sie sich herausfordern läßt von ihrem Gerechtigkeitssinn, und durch Szenen, bei denen man heulen möchte vor Rührung oder weil sie etwas Utopisches enthalten.

Sara Paretsky: Naja, meine Lieblingsautorinnen sind die viktorianischen Schriftstellerinnen, Louisa May Alcott, George Elliot.

Pieke Biermann: Aber du hast immer noch nicht gesagt, woher deine Figuren kommen. Ich unterstelle dir ja nicht, Mr. Contreras sei eine bösartige Variation über deinen Mann...

Sara Paretsky: Um Himmelswillen!

Pieke Biermann: Woher hast du Lotty geholt, Gabriella?

Sara Paretsky: Lotty sollte gar keine so wichtige Figur werden. Ich habe sie nach einer Ärztin konstruiert, die damals, in den Zeiten, in denen Abtreibung in den USA illegal war, sehr aktiv im abortion underground war. Als Person ist sie völlig anders als meine Lotty, aber meine Lotty hat sich, glaube ich, einfach selbstständig gemacht. Das hat zu tun mit der verstrickten Beziehung zwischen dem, was meiner Familie in Europa passiert ist, und meinem eigenen Leben. Lotty war für mich eine Möglichkeit, mit diesem Teil meines Lebens umzugehen, sie repräsentiert den europäischen Teil meines Lebens.
      Außerdem, als ich anfing mit der Serie, habe ich ja nicht geglaubt, daß ich es schaffe, überhaupt ein Buch zu schreiben. Also habe ich mich ganz bewußt an die Konventionen des Genres gehalten. Ich habe, zum Beispiel, V.I. als Waise konstruiert. Aber mir war sehr ungemütlich angesichts des Alleinseins. Und auch so kam Lotty zum Zuge - sie hat die Lücke gefüllt, dieses Bedürfnis nach menschlicher Nähe für V.I.
      Mit Gabriella war es ganz anders. Die ist für mich ganz real, obwohl sie V.I.s gestorbene Mutter ist...

Pieke Biermann: ... sie ist auch für V.I. immer sehr nahe und lebendig, sie scheint immer irgendwie dahinter zu stecken.

Sara Paretsky: Jaja. Gabriella hat sehr viel von einer meiner beiden Großmütter, meiner jüdischen Großmutter. Ein großer Teil dessen, was Gabriella erlebt hat, nachdem sie in die USA emigriert ist, hat meine Großmutter erlebt.

Pieke Biermann: Stammt sie auch aus Italien?

Sara Paretsky: Leider nicht. Ich habe bloß Vorfahren aus diesem langweiligen Nordeuropa, das ich hasse! Nein, ich hasse es nicht. Aber es ist so... kalt. Und bleich.
      Aber auch meine Großmutter ist immigriert und mußte zusehen, daß sie das Beste draus machte, und hat eben ihre ganze Leidenschaft in den Wunsch kanalisiert, daß ihre Kinder und Enkel anders, besser leben können. Das habe ich übersetzt in Gabriellas Entscheidung, auf eine Opernkarriere zu verzichten und einen zwar liebenswerten, aber nicht besonders leidenschaftenweckenden Polizisten zu heiraten, und in ihren Wunsch, daß V.I. niemals in eine Situation kommen möge, in der sie solche Entscheidungen treffen muß.

Pieke Biermann: Wahrscheinlich ist sie deshalb so glaubwürdig unabhängig. Und wahrscheinlich ist sie auch deswegen eine so autonome Figur, mit der die Tradition der einsamen, männlichen Helden gleichzeitig beendet und erweitert wird. Du sagst, du fängst an mit der Idee eines bestimmten Verbrechens, für dessen Vertuschung jemand auch bereit zum Morden ist. Muß Mord sein?

Sara Paretsky: Ich neige zum Mord, hahaha, aus verschiedenen Gründen. Erstens lebt das Genre wohl tatsächlich von Kapitalverbrechen. Und zweitens, ich lebe in einer Gesellschaft, in der Morde in einem wahnwitzigen Ausmaß real sind. Mord ist eine Art und Weise, in der Leute glauben, ihre Probleme lösen zu können. Sie überlegen sich keine heldenhafteren Auswege, sie greifen zur Knarre. Kurz vor meinem Abflug nach Europa habe ich gelesen, daß wir in den USA eine Mordrate haben, an die kein anderes Land herankommt. Für Europäer ist das, glaube ich, nur schwer vorstellbar. Und drittens interessiere ich mich einfach für eine bestimme Art von Gewalttätigkeit und Gerechtigkeit, dafür, wie die ihrerseits zusammenhängen mit den Unterschieden zwischen arm und reich, zwischen schwarz und weiß und natürlich zwischen Frauen und Männern. Das ist alles sehr kompliziert. Auch deshalb bin ich so empört über das ganze brutale Geschreibe, das zumeist bloß die heimlich lüsterne bildliche Darstellung von Gewalt ist, und wenn man fragt, was das soll, dann kriegt man zu hören, es sei eben realistisch, so sei eben die Realität. Wenn unsere Kriminalliteratur Realität wirklich reflektieren würde, dann wären dei meisten realen Mordopfer berufstätige weiße Frauen, die sexuell aktiv sind! Denn die sind das häufigste Opfer unserer Literatur. Schon bei Chandler!

Pieke Biermann: Du würdest Chandler als Maßstab nicht akzeptieren? Weißt du, daß V.I. und ein paar andere neue Heldinnen von Kriminalautorinnen hierzulande als "Marlowes Töchter" gefeiert werden?

Sara Paretsky: Was? Nun ja. Natürlich hat Chandler das Genre definiert, und alle, die nach ihm schreiben, akzeptieren das so oder so, führen fort, setzen dagegen, was weiß ich. Aber gerade in seinen Philip-Marlowe-Romanen kultiviert er eine eisige Verachtung für die sexuell aktive und attraktive Frau. In sechsen der sieben Romane ist sie an allem schuld, und er beweist in seinen Beschreibungen einen wirklich gewalttätigen Blick auf solche Frauen, er macht sie verächtlich. Auch darin ist er Begründer eines Leitmotivs amerikanischer Kriminalliteratur. Und noch etwas ist kennzeichnend für Chandler und die meisten der heutigen Thrillerautoren: Sie sind alle gleichgültig gegenüber - ich weiß gar nicht, wie ich das nennen soll: Gegenüber dem realen Alltag und seinem politischem Gehalt, gegenüber dem, was die Institutionen von heute aus dem Leben gemacht haben.

Pieke Biermann: Sie siedeln ihre Gewalttaten samt Rache im luftleeren Raum an? Sind sie unhistorisch?

Sara Paretsky: Vielleicht bin ich auch einfach schräg, vielleicht liegt mir zu sehr daran, die Storys in der aktuellen Realität zu verankern. Vielleicht will das in fünfzig Jahren niemand mehr lesen, weil sie zu zeitgebunden sind.

Pieke Biermann: Und höchstens noch spannend für ethnologisch interessierte Marsmenschen, die die seltsamen Umtriebe von Chicago-Menschen im ganz späten zwanzigsten Jahrhundert erforschen? Nein, ich glaube, daß im Gegenteil Literatur, auch Kriminalliteratur, deshalb spannend ist, weil sie einen Ort und eine Zeit in ihrer besonderen Beschaffenheit trifft und erfahrbar macht, wie sie "tickt".

Sara Paretsky: Ja, ich auch. Jedenfalls mache ich mir darum keine Sorgen. Als ich meine Story für dies Anthologie geschreiben habe - ein paar heutige Autoren schreiben eine Marlowe-Geschichte -, da habe ich sie 1942 spielen lassen, das war die Zeit, in der die US-Regierung vor allem in Kalifornien die Japaner in Internierungslager gesperrt hat, und ich habe Marlowe gezwungen, das wahrzunehmen. Das war meine winzig kleine Rache für Chandlers Umgang mit Frauen, hahaha!

Pieke Biermann: Bravo, aber wahrscheinlich hat's wieder keiner gemerkt... Wenn du den Mangel an wirklicher, aktueller Realität, an Leben in einer von Institutionen beherrschten Gesellschaft bei deinen Kollegen beklagst, dann könnte das auch nach "Themen-Krimi" klingen, im schlimmsten Fall danach, daß du eine verbrecherische Ecke der Gesellschaft denunzieren willst und dir die passende Story dafür suchst. Politische Agitation mit den Mitteln des Romans.

Sara Paretsky: Wie sagst du: Nee, nee, nee!
      Ich muß die Leute nicht informieren, sie wissen das längst. Ich weiß, und sie wissen es auch, daß da, wo die white collar crimes passieren, Frauen nahezu null Machtposition haben, daß 97% der Spitzenjobs mit Männern besetz sind und die restlichen 3% zwischen weißen Frauen und schwarzen Männern aufgeteilt sind. Frauen entscheiden also fast nichts. Dennoch werden sie - im Zusammenhang mit solchen Verbrechen: Wirschafts-, Umwelt-, Versicherungsdelikten, Betrügereien usw. - fünfzehnmal häufiger verhaftet und ins Gefängnis gesteckt als Männer. Die kleine Büromaus, die da für ein paar hundert Dollar arbeitet, um ihre Kinder durchzubringen, geht in die Kiste, der Typ über ihr, der Millionen abstaubt, kriegt nicht mal einen Prozeß. Was mich interessiert, ist darzustellen, wie wirkliche Gewalt im Leben von Leuten funktioniert, wie sie vernetzt ist mit dem realen, ordentlichen Leben. Wie jemand dazu kommt zu betrügen - und dann zu morden. Wie jemand dazu kommt, Opfer von Betrug und Mord zu werden.
      Das Buch, an dem ich gerade arbeite, handelt unter anderem von einer Art Betrug, die von Bankleuten begangen wird. Kurz, ein Banker muß dringen junk-bonds verkaufen und schwätzt ein paar alten Leuten, die ihre Ersparnisse bei seiner Bank in sicheren Bundesschatzbriefen angelegt haben, auf, die junk-bonds seien viel besser, die Zinsen höher, es sei das Beste, wenn sie ihre Schatzbriefe verkaufen und die junk-bonds kaufen. Er geht bankrott, und die Papiere sind natürlich nichts wert. Die alten Leute verlieren alles, was sie haben. Und das ist Realität, wir haben ich weiß nicht wie viele Tausende, alte Leute, die wegen solcher Sachen ihre Häuschen verlieren und verhungern. Morde, die von alten Leuten aus purer Not begangen werden, erleben einen enormen Aufschwung. In solchen Vorgängen des alltäglichen normalen, ordentlichen Lebens steckt eine Unmenge Gewalt bis hin zum Tod. Und darüber schreibe ich.

Pieke Biermann: Woher holst du die Verbrechen? Sind sie imaginiert, indem du Tatsächliches einfach etwas weiter reizt, oder sind sie so schon passiert?

Sara Paretsky: Ich lese fast jeden Tag das Wall Street Journal, ich habe ein ganzes Archiv mit Zeitungsausschnitten über alle möglichen Variationen solcher Betrügereien. Und es kommt oft vor, daß mich eine davon regelrecht anspringt, mich an den Eingeweiden packt und ich das Gefühl habe: Das wäre eine Geschichte. Ich weiß natürlich ein paar Dinge über die Finanzwelt, weil ich so lange in ihr gearbeitet habe. Ich kenne das Milieu ein bißchen.

Pieke Biermann: Wie lange brauchst du für einen Roman?

Sara Paretsky: Für das Schreiben, also wenn ich alles recherchiert habe und die Story stimmt, ungefähr sechs Monate. Insgesamt sind es immer 14 bis 20 Monate.

Pieke Biermann: Also alle zwei Jahre eins.

Sara Paretsky: Ungefähr. Mein Verlag hätte lieber jedes Jahr eins! Aber das kann ich nicht. Einen der V.I.-Romane habe ich mal in neun Monaten geschreiben, »Tödliche Therapie« (Bitter Medicine, 1987/1989).

Pieke Biermann: Neun Monate für einen Roman, in dem es um das Thema Abtreibung geht - sehr komisch. Ich fand den am schwächsten von deinen Romanen.

Sara Paretsky: Ja? Wieso?

Pieke Biermann: Er war mir zu deutlich "politisch-programmatisch", als hättest du Lottys Verfolgung durch diese right-to-life-Terroristen im Nachhinein draufgesetzt, um politische Emotionalität zu erzeugen. Ein bißchen wie die korrekte feministische Linie kam es mir vor.

Sara Paretsky: Kann sein. Aber irgendwie ging das so - bumm, neun Monate.

Pieke Biermann: Deine Romane haben bisher immer ein Happyend, wenn auch in dem begrenzten Sinn, den du vorhin erwähnt hast. Willst du das so weitermachen?

Sara Paretsky: Ich weiß nicht, ich habe sowieso nur noch für zwei V.I.-Romane einen Vertrag.

Pieke Biermann: Und dann? Hörst du auf?

Sara Paretsky: Ja! Das heißt, wenn mich nicht irgendein Finanzproblem zwingt, einen neuen Vertrag zu schließen...
      Ich habe mich mal mit einer Kriminalpolizistin unterhalten, sie gehört zu einer Chicagoer Mordkommission, und sie ist Krimifan. Sie hat an einem Seminar teilgenommen, das ich mal gemacht habe. Sie hat gesagt, sie mag nur Krimis mit richtigen Motiven und richtigen Lösungen.

Pieke Biermann: Weil sie sonst morgens nicht wieder ins Kommissariat gehen könnte?

Sara Paretsky: Naja, das Schlimme an ihrer Arbeit, sagt sie, ist, daß sie so oft so beliebig ist, so zufällig, das meiste bleibt ungelöst. Ich glaube, darin steckt eine allgemeine Erfahrung: Wir greifen alle zu Fiction, um uns eine Art Druckausgleich gegen diese Beliebigkeit und Zufälligkeit zu verschaffen. Ich glaube, das Leben ist wirklich so. Die Dinge passieren blindlings, zufällig. Zum Beispiel der alte Mann, der am Abendbrottisch mit einem Schlaganfall tot zusammenbricht. Das kommt von nirgendwoher und führt nirgendwohin.

Pieke Biermann: Du meinst die Bedrohlichkeit des täglichen Lebens - es kann alle in jeder Sekunde treffen?

Sara Paretsky: Ja, genau. Und wir wissen, daß wir sowieso sterben müssen. Und es gibt Zeiten, in denen man damit nicht zurandekommt. Fiction verschafft einem einen Augenblick Befreiung davon.

Pieke Biermann: Ich weiß. Aber braucht man dazu auch Helden, Heldinnen? Ich glaube, Helden sind Konstruktionen des Optimismus. Paradoxerweise mag ich V.I. Warshawski sehr gern, aber eigentlich fühle ich mich von Helden und erst recht von Heldinnen immer betrogen - sie jubeln mir heimlich einen Optimismus unter, den ich - jedenfalls zum Thema Gewalttätigkeit - nicht habe. Im Gegensatz zu dir, vielleicht.

Sara Paretsky: Ich weiß es nicht. Ich habe das Gefühl, schon der Versuch, das zu analysieren, zu analysieren, was hinter meinem Schreiben liegt, ist so etwas wie verbotenes Gebiet für mich. Ich will es einfach nicht tun.

Pieke Biermann: Warum nicht?

Sara Paretsky: Es ist so zerbrechlich. Ich kann damit nicht spielen.

Pieke Biermann: Auch nicht für dich allein?

Sara Paretsky: Doch, aber das ist meine Privatsache. Die kann ich nicht mit der Öffentlichkeite teilen.

 

© Pieke Biermann, 1991
(Das Interview ist erschienen in Underground, März 1991)

 

Weitere Infos bei kaliber .38 zu Sara Paretsky:

Im Namen des 11. September.
Pieke Biermann im Gespräch mit Sara Paretsky (2002)
Pieke Biermann: Die eingefrorene europäische Vergangenheit.
Eine ausführliche Rezension des Sara Paretsky-Romans »Ihr wahrer Name« (2002).
Pieke Biermann: Verschärfte Schikane.
Eine Besprechung des Romans »Die verschwundene Frau« (2001).

Eine Sara Paretsky-Bibliographie und ein kleines Porträt finden Sie in unseren Autoren-Infos

 

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