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Verschärfte Schikane

Pieke Biermann über Sara Paretsky und ihren neuen Roman »Die verschwundene Frau«

 

Die verschwundene Frau

V.I.Warshawski ist P.I. in Chicago und die wandelnde Empathie. V.I. hat den "Atlas-Komplex", möchte am liebsten alle Menschen retten und alles reparieren, was in dieser Welt kaputt ist. V.I.'s Zorn auf die Scheusslichkeiten dieser - ihrer - Welt kommt von so tief aus den Eingeweiden, dass die männlichen Private Investigators der Hardboiled-Klassik neben ihr wirken wie die wandelnde Indolenz.

Kriminalschriftsteller sind die letzten Moralisten unter den Literaturgewerbetreibenden, heisst es. Keine Ahnung, ob das stimmt. Mir klingt das auch zu sehr nach "Besserer-Mensch"-Abonnement. Aber die besseren Schriftsteller haben mit Sicherheit den "Atlas-Komplex" selber. V.I.s Erfinderin zum Beispiel: Sara Paretsky ist derselbe "Realitäts-Junkie" wie ihre Figur, hat denselben Zorn im Leib und denselben bösen Blick auf die großen Systeme hinter den Scheusslichkeiten.

Sara Paretsky ist Feministin, von der Sorte Feminismus, der an die sozialrevolutionären oder zumindest - reformerischen Traditionen früherer Frauenbewegungen anknüpft. Auch V.I. gehorcht keinem feministischen "Zeitgeist", keinem "I'm only in it for myself"-Egoismus. V.I. Warshawski legt sich mit allem an, was gross und mächtig ist: Versicherungsgesellschaften, Chemiekonzerne, Immobilienhaie, eine gierige Medizinmafia, die katholische Kirche. Sie schlägt sich herum mit dem, was die anrichten - und das heisst für Paretsky/Warshawski immer: was die dem ohnmächtigen kleinen Individuum antun. Sie wird auch von denen zusammengeschlagen, ganz buchstäblich.

In ihrem neuesten Fall geht es um gleich zwei solche Konglomerate, die natürlich miteinander verfilzt sind: Die fette hohle neue Medienwelt und das Knastsystem. Erstere ist ein widerwärtiges Gebräu nach dem Prinzip "Was Hearst in Presseallgewalt sind wir in omnipräsentem Fernsehkitsch!". Letztere ist eine teilprivatisierte Vorhölle für Frauen, in der ein Security-Multi dafür sorgt, dass die Insassinnen sowohl als Sexobjekt als auch als Billigklamottennäherinnen ausgebeutet werden können.

Zum Filz gehören selbstverständlich wieder Teile der Polizei. V.I. Warshawski wird diesmal nicht nur übel zugerichtet, sondern bekommt Gelegenheit, ein besonders apartes Exemplar des Knastsystems von innen zu erleben.

Sara Paretskys V.I.-Romane sind längst selbst Hardboiled-Klassik. Das liegt an ihrer Figur. Und es liegt an ihrem Interesse für die Stadt. Paretskys Chicago ist tatsächlich von dieser - unserer scheusslichen - Welt. Die Viertel, die Strassen, die Häuser gibt es oder gab es. Die Figuren sind "frei erfunden", soweit das für Realitäts-Junkies möglich ist. Denn die Konflikte, Verbrechen und Leiden sind authentisch. Ein "Frauengefängnis Coolis" gibt es zwar nicht, wohl aber das Haftanstaltensystem, das es bebildert.

"Hard Time" heisst dieser Roman, der dieser Tage bei uns als "Die verschwundene Frau" auf den Markt kommt. Hard time bedeutet unnormal lange oder verschärfte Haft in der Umgangssprache, und wer jemanden hard-timet, schikaniert, drangsaliert, tyrannisiert ihn. Sara Paretskys maximal zweiwörtige Titel geben immer einen Hinweis auf die Schweinereien, die jeweils im Mittelpunkt stehen. Aus Coolis nämlich ist "die Frau verschwunden", und zu einer Gruppe notorisch Drangsalierter gehört sie obendrein.

Nicola Aguinaldo ist Philippina, ihre Papiere sind zwar in Ordnung, aber die ihrer Mutter nicht, ihr Töchterchen ist schwindsüchtig und sie selbst schindet sich als Kindermädchen-für-alles (inkl. Hausherr) bei einer reichen Vorstadtfamilie. Eines Nachts liegt sie auf der Strasse. V.I. kann gerade noch bremsen. Aber sie hat Nicola natürlich nicht mal angefahren. Die stirbt vielmehr an inneren Verletzungen durch Misshandlung.

Von einer Medien-Super-Party kommt V.I., Nicolas Hausherr ist Protagonist im Schmutz-Trust, V.I. kriegt den dubiosen Auftrag, den angeblichen Stalker des weiblichen Super-TV-Stars auszubooten.

V.I. wie wir sie kennen und lieben: Der Fall spring sie persönlich an, bringt sie in P.I.-typisches Finanzchaos und bietet allen Freundinnen und Freunden wieder Gelegenheit, ihr die Wunden zu lecken oder den Kopf zu waschen. That's what friends are for! V.I. ist eben auch der echtere Lonesome Wolf, denn Wölfe sind in Wahrheit soziale Wesen. Mr. Contreras, die Golden Retriever, Lotty Herschel und und und alle sind wieder da.

So ist es bei Serien - sie haben immer etwas von "Unsere kleine Stadt". Das muss auch so sein, das macht uns Leser selbst zum treuen Teil von V.I.'s Rudel. Und wir Leser mögen das.

Wir Schriftsteller und -innen allerdings werden manchmal müde an der Formel. Sie wird eng, die Figuren öden uns an und ärgern uns. Wir haben Geschichten zu erzählen, die da gar nicht reinpassen. Bei Sara Paretsky war die Ahnung davon schon 1991 da - sie hatte den sechsten Roman fertig ("Burn Marks") und einen Vertrag über zwei weitere zu erfüllen. Sie wollte unbedingt etwas anderes schreiben, danach. Wir haben seitdem oft darüber geredet, auch mit Liza Cody, die zur selben Zeit dieselbe Formelmüdigkeit verspürte. Liza Cody entliess 1992 "ihre V.I." Anna Lee und setzte eine atemberaubende neue Anti-Heldin dagegen: Eva Wylie.

Sara Paretsky schrieb V.I. Nr. 7 und Nr. 8 und tat etwas noch Atemberaubenderes, für das sie vier Jahre brauchte. Sie schrieb einen Roman in völlig freier Form, ein bösartig gutes, herzblutgetränktes Stück Prosa namens "Ghost Country" (dt. Geisterland). Auch darin brilliert sie mit etwas, das schon die V.I.-Romane auszeichnet: ungemein treffsicher schnöselige Wohlstandstussis in ihrer selbstgefälligen Eiseskälte abzubilden. Es floppte trotzdem, in Amerika und auch hier. Und ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich der "dumme Leser" ist, dem soviel Sozialkritik zu hart ist oder der einem Autor nicht verzeiht, wenn der aus seiner "Lindenstrasse" ausbricht. Vor dem Leser kommen allerhand Mediatoren - Agenten, Verleger, PR-Abteilungen. Das ist kein verschwörungstheoretischer Wink, man kann Flops ebenso wenig "machen" wie Erfolge. Aber jedes Buch muss sich zuallererst in seinem Verlag verkaufen.

Ich jedenfalls war sehr stolz, dass Sara Paretsky "Ghost Country" zu schreiben und zu veröffentlichen geschafft hat. Und finde es trotzdem herrlich, dass V.I. wieder da ist - mit Computer, Internetanschluss (mit dem man anderer Leute Lebens- und Konsumdaten herauskriegen kann) und einem kleinen gesicherten Einnahmetopf. Ach ja, und mit ihrem Faible für Schuhe!

© Pieke Biermann, 2000

Sara Paretsky: Die verschwundene Frau. (Hard Time, 1999). Ein Vic Warshawski Roman. Aus dem Amerikanischen von Sonja Hauser. Gebunden, 444 S., 39.80 DM.

 

Weitere Informationen zu Sara Paretsky bei kaliber .38:

Im Namen des 11. September.
Pieke Biermann im Gespräch mit Sara Paretsky (2002)
Pieke Biermann: Die eingefrorene europäische Vergangenheit.
Eine Rezension des Romans »Ihr wahrer Name« (2002).
Gewalt an Frauen ist das Leitmotiv der amerikanischen Kriminalliteratur
Pieke Biermann im Gespräch mit Sara Paretsky (1991)

Eine Paretsky-Bibliographie und ein kleines Portrait finden Sie in unseren Autoren-Infos

 

Kurzportrait Pieke Biermann:

Pieke Biermann Pieke Biermann, geboren 1950, wuchs in Hannover auf. Sie studierte Deutsche Literatur und Sprache, Anglistik und Politische Wissenschaften. Seit 1976 lebt Pieke Biermann in Berlin.

Für Ihre Kriminalromane um die Berliner Kommissarin Karin Lietze erhielt sie dreimal den deutschen Krimipreis. Außerdem schrieb Pieke Biermann diverse journalistische Arbeiten für Rundfunk, Fernsehen und Zeitung (jüngst erschienen sind ihre Kolumnen Herta & Doris), und übersetzte mehrere Bücher aus dem Italienischen und dem Englischen (zuletzt die Socrates-Romane von Walter Mosley, die im Schweizer Unionsverlag erschienen sind). Aktuell arbeitet Pieke Biermann an einem neuen Roman und an einer Agatha Christie-Neuübersetzung.

 

Kurz-Bibliographie:

Potsdamer Ableben, 1987
Violetta, 1990
Herzrasen, 1993
Vier, fünf, sechs, 1997
Berlin, Kabbala (Stories), 1997
Herta & Doris (Kolumnen), 2002
Der Asphalt unter Berlin (Kriminalreportagen), 2008

 

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