kaliber .38 - krimis im internet

 

Krimi-(Vor-)Auslese 02/2021

 

Das Verschwinden der Erde Schon seit der Vorankündigung auf meinem Lesezettel steht Das Verschwinden der Erde der amerikanischen Autorin Julia Phillips (dtv, dt. von Roberto de Hollanda und Pociao). Schon der feine Titel weckt die Neugierde - aber mehr noch der entlegene Schauplatz: Der Roman spielt in der grauen Stadt Petropawlowsk in der Region Kamtschatka, am südöstlichsten Rand Russlands - eine Gegend, die die Autorin von einem einjährigen Stipendium während ihres Studiums kennt. In ihrem vielstimmig angelegtem literarischen Thriller erzählt Phillips (Jahrgang 1988) von unterschiedlichen Frauen, die allesamt lose verbunden sind durch das Verschwinden zweier Mädchen. In den dreizehn Geschichten untersucht die Autorin, wie Gewalt die Lebensumstände der Frauen und das Zusammenleben der Russen mit der indigenen Bevölkerung der Region prägen. Eine besondere literarische Rolle in "Das Verschwinden der Erde" spielt die spektakuläre Landschaft - die Weiten der Tundra, die tiefen Wälder und die schneebedeckten Vulkane. Nun denn, wir sehen hoffnungsfroh einem "wunderreichen Debüt" entgegen, in dem die "Kraft der Geschichte (...) uns von Seite zu Seite [trägt], und ihre [Phillips'] Sätze schwingen und klingen", wie Klaus Brinkbäumer in der "Zeit" schreibt.

 

Der Bruch Schonungslose Unterschichtsprosa aus Edinburgh: Der Bruch heisst der neue Krimi von Doug Johnstone, der - schon das sorgt für Beachtung - von Jürgen Bürger übersetzt wurde (Polar Verlag). Johnstone erzählt vom siebzehnjährige Tyler, der mit alkohol- und drogensüchtiger Mutter in einer heruntergekommenen Hochhaussiedlung lebt. Tyler wird von seinem psychopathischen Stiefbruder Barry gezwungen, die Häuser reicher Leute in Edinburgh auszurauben. Tyler ist zwar von schmächtiger Statur - er kann durch die schmalsten Öffnungen in die Objekte der Raubzüge eindringen -, aber er ist das Kraftzentrum seiner Familie und sorgt mit Hingabe für die kleine Schwester Bean, wenn die Mutter mal wieder auf Stoff ist. Bei einem Bruch kommt es zur Katastrophe: Der gewalttätige Barry sticht auf die Hausbesitzerin ein. Am folgenden Tag stellt sich heraus, dass es sich bei dem Opfer um die Frau eines berüchtigten Gangsters handelt. Tyler muss sich entscheiden zwischen Loyalität und Verrat. Ein kleiner Lichtblick schimmert durch die Seiten, als Tyler auf Flick trifft, ein Mädchen aus gutem Hause, aber von den ständig abwesenden, an der Karriere feilenden Eltern nicht minder vernachlässigt als Tyler.
      Doug Johnstone ist einer der wichtigsten schottischen Krimiautoren. In englischer Sprache hat er seit 2006 ein Dutzend Romane publiziert, von denen vor ein paar Jahren bei uns drei Titel im btb-Verlag erschienen waren. Erfreulich, wenn jetzt weitere seiner Romane im Polar Verlag zugänglich gemacht werden. "Doug Johnstones Edinburgh", so Marcus Müntefering bei SPIEGEL online, "ist so finster, dass es selbst John Rebus, der hart gesottene Polizist aus Ian Rankins Krimi-Bestsellern, mit der Angst zu tun bekommen würde.". Düstere Prosa, nicht schön das, aber literarisch kraftvoll.

 

Schwere Körperverletzung Ah - nach langen Monaten Sendepause (die letzte Buchveröffentlichung war, wenn wirs richtig sehen, September 2019) gleich zwei neue Bücher im Berliner Pulpmaster Verlag: Ted Lewis Schwere Körperverletzung ist ein abgezockter Gangsterroman aus der Londoner Unterwelt, im Original bereits 1980 erschienen, als deutsche Erstausgabe 1990 bei Black Lizard. Ted Lewis, 1982 gestorben, ist einer der Begründer des britischen Noir. "Schwere Körperverletzung" wurde von Angelika Müller neu übersetzt und erscheint mit einem Vorwort von Derek Raymond. Der Roman ist ein Klassiker des britischen Noir - und, wie alle guten Bücher, eine literische Zumutung: Der Ich-Erzähler ist ein Killer, der in der Eingangsszene einen Verräter zu Tode foltert. Düstere Prosa, nicht schön das, aber literarisch kraftvoll.

Wilderer Dann: Südstaaten-Prosa von Tom Franklin, der mit seinem Roman "Crooked Letter, Crooked Letter" von 2010 den Edgar und den Dagger gewann, die beiden wichtigsten Auszeichnungen in der englischsprachigen Kriminalliteratur. Franklins schriftstellerische Karriere begann 1999 mit einer Story-Anthologie, die der Pulpmaster Verlag jetzt unter dem Titel Wilderer veröffentlicht (dt. von Nikolaus Stingl). Der mit "Jagdzeit" betitelten Einleitung entnehmen wir, dass Franklin im Süden der USA literarisch ähnlich tief verwurzelt ist, wie Joe R. Lansdale im Osten Texas' oder James Lee Burke im Iberia County in Louisiana: "Vor vier Jahren, mit dreißig, bin ich aus dem Süden weggegangen, zu einem weiterführenden Studium in Fayetteville, Arkansas, wo mir unter den dorthin verpflanzten Yankees und Weststaatlern klar wurde, welches Glück ich hatte, hier in diesen Wäldern aufgewachsen zu sein, unter Wilderern und Geschichtenerzählern. Ich weiß natürlich, daß Arkansas für die meisten Leute zum Süden zählt, aber ist nicht mein Süden. Mein Süden - der mir bis heute im Blut liegt und meine Vorstellungswelt bestimmt, der Süden, in dem diese Geschichten spielen - ist das südliche Alabama, üppig, grün und voller Tod, die waldreichen Countys zwischen dem Alabama und dem Tombigbee River.". Das macht doch wirklich Lust auf mehr - wir freuen uns auf eine Expedition in die Mythen, Geisteswelt und Natur einer Region, die man viel zu schnell mit dem Label "hinterwäldlerisch" abtut!

 

1946 - In den Ruinen von Babylon "Babylon Berlin" und die Folgen: 1946 - In den Ruinen von Babylon heisst ein Roman von Carlo Feber, der gleich mit seinem Titel klar macht, dass er im Fahrwasser des großen Erfolgs der Romane von Volker Kutscher und der Fernseh-Serie dümpelt. Der Roman ist Auftakt einer neuen Reihe um die beiden Kommissarsanwärter Curt Lanke und Hajo Steinert, die im zerbombten Berlin in der Zeit nach dem Zusammenbruch des Naziregimes ermitteln. Erschienen ist das Buch bei Piper Digital, gewissermaßen der Rumpelkammer des Münchner Verlagshauses. Schade, nicht mal eine Leseprobe ist online, und 19 Steine für ein Taschenbuch ist viel Geld, wenn man nicht mal reinschnuppern kann. Damit ist zur Qualität des Textes wirklich gar nix gesagt, aber wenn sich das Marketing nicht mal Mühe gibt, dann steigert das nicht gerade die Vorfreude auf den Text.

 

Schatten der Mörder - Shadowplay "Babylon Berlin" und die Folgen: "Schatten der Mörder - Shadowplay" heisst eine achtteilige Thriller-Serie von Måns Mårlind, die Sie in der ZDF-Mediathek finden können. Der augenscheinlich kostspielig produzierte und mit internationalen Schauspielern besetzte Krimi spielt in der Trümmerlandschaft Berlins im Sommer 1946. Hauptfigur ist der New Yorker Polizist Max McLaughlin, dessen Mutter Deutsche war. McLaughlin wird nach Berlin versetzt, um bei der Errichtung einer Zivilpolizei nach amerikanischem Vorbild zu helfen. In Berlin trifft er auf Elsie Garten, Leiterin eines kleinen Polizei-Reviers in Berlin Schöneberg, und Chefin einer Einsatztruppe, die im Wesentlichen aus Frauen und Waisenkindern besteht, denen Stuhl- und Tischbeine als Schlagstöcke dienen. Zwei ermordete GIs führen die ungleichen Cops Max und Elsie zum Berliner Arzt und enigmatischen Unterweltkönig Gladow, genannt "der Engelmacher". Ein weiterer Leichenfund bringt Max auf die Spur seines verloren geglaubten, labilen Bruders Moritz, der nach der Teilnahme an der Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz völlig aus der Bahn geraten war. Seither stochert Moritz im Berliner Untergrund und macht Jagd auf Nazi-Granden, die er nach dem Bilde der Max & Moritz-Geschichten aufs Grässlichste meuchelt.
      "Schatten der Mörder - Shadowplay" ist ein spannend-hartes Krimi-Drama aus der brutalen Nachkriegszeit, dass teils mit schönen Details aufwartet (etwa der Hinweis an den neu in der Stadt eingetroffenen Polizisten Max, dass ihm ein Stadtplan nichts nütze, weil in der Trümmerlandschaft nicht mal Straßen zu identifizieren sind), teils unglaublich geschludert wurde (von welchem Punkt in Berlin aus befindet sich denn Reinickendorf "ganz weit im Westen?"). Ein echter Hingucker schon der Vorspann, in dem Textausschnitte aus "Max & Moritz" mit dem Berliner Stadtplan verschmilzen, und sich eine verlaufende Blutspur zu den berühmten Busch-Figuren formt. Unterlegt ist der Vorspann mit der Musik von Nathaniel Mechaly, der auf geniale Weise den Song "Shadowplay" der Postpunk Band Joy Division uminterpretiert (gesungen von Lily Oakes). In Film/der TV-Serie selbst taucht "Shadowplay" wieder auf als "Schattenspiel" - eine verschollene Partitur von Johann Sebastian Bach, die in der Berliner Trümmerlandschaft von einem einsamen Cello-Spieler zur Welturaufführung gebracht wird. Vieles wirklich gut also - bis runter zu den immer vorzüglich sitzenden Frisuren merkt man hochprofessionellen Einsatz. Es gibt überraschende Wendungen in der Handlung, und die Figuren sind mehrschichtig angelegt. Allein - es berührt nicht wirklich! Man sieht gut agierenden Schauspielern bei ihrer Arbeit in aufwändigen Kulissen zu, aber der Funke springt nicht über. Die Produktion ist mit Blick auf einen internationalen Markt viel zu glatt poliert, weniger wäre deutlich mehr gewesen. Bei der zweiten Staffel sind wir aber vermutlich wieder dabei...

 

Tatort: Tödliche Flut Ich zähle nicht zu den zahlreichen "Tatort"-Fans. Klar, das "Team Wien" ist charmant, das "Team Münster" drollig und das "Team Weimar" erfrischend durchgeknallt. Aber die Stories? - Ach Gottchen! Von zwei Figuren aber bin ich richtig angetan - dem Dortmunder Cop Peter Faber, dargestellt von dem großartigen Schauspieler Jörg Hartmann, und dem Hamburger Bundes-Polizisten Thorsten Falke, den der ebenso grandiose Schauspieler Wotan Wilke Möhring mimt. Noch bis zum 24. Februar können Sie in der ARD-Mediathek den jüngsten Falke-Tatort "Tödliche Flut" streamen. Der Krimi spielt auf der Insel Norderney und beschäftigt sich mit Immobilienspekulation, Verdrängung der alteingesessenen Bevölkerung und - vermeintlicher? - Korruption in der Kommunalpolitik. In den Fall gezogen wird Falke durch die investigative Journalistin Imke Leopold, eine Bekannte aus späteren Jugendtagen, die sich bis zur Selbstaufgabe in ihre journalstische Arbeit verbeisst. Gute Unterhaltung, aber facettenreicher zur Entfaltung kommt die Figur Thorsten Falke im Tatort "Die goldene Zeit", den Sie ebenfalls in der ARD-Mediathek finden: Ein Auftragsmord erschüttert das Rotlichtmilieu im Hamburger Kiez. Bei seinen Ermittlungen trifft Falke auf die Rotlicht-Größe Lübke, einen alten Bekannte, mit dem der Cop eine Vergangenheit als jugendlicher Türsteher verbindet. Falke, in St. Pauli aufgewachsen, weiss, nach welchen Regeln die Menschen hier ticken, er spricht ihre Sprache und respektiert sie. "Die goldene Zeit" besticht mit lebensprallen Figuren und ist bis in die kleinsten Nebenrollen toll besetzt.

 

Sörensen hat Angst Dann noch: Sörensen hat Angst heisst ein ganz feiner Fernseh-Krimi, der auf dem gleichnamigen Roman von Sven Stricker basiert (den wir, sorry dafür, als Krabben-Krimi in dieser enervierenden Urlaubs-Krimi-Welle abgetan haben). Sörensen, ohne Vornamen, ist Polizist aus Hamburg, der seit Kindertagen unter einem Angst-Syndrom leidet und jetzt, nachdem er zwei Jahre krankheitsbedingt ausser Dienst war, in dem Kaff Katenbüll an der friesischen Küste einen möglichst ruhigen Neuanfang wagt. Die Ruhe wird - selbstredend - gestört: Von mehreren Kugeln durchsiebt, wird der Bürgermeister des Örtchens im Pferdestall gefunden. Klingt nach klassischer Land-Krimi-Kost, wird aber von Bjarne Mädel, der nicht nur die Hauptrolle spielt, sondern auch Regie führte, erfrischend anders serviert: "Sörensen hat Angst" überzeugt mit vielen sorgfältigen Einstellungen und teils poetischen Bildern (allein der Kaktus auf dem Polizei-Schreibtisch ist der Hammer!). Der Film ist humorvoll, aber meilenweit weg von bajuwarischen Schenkelklopf-Dorfkrimis. Und die Angst-Störung des Polizisten ist keine Marotte, die zu Gags einlädt, sondern zur Scharfzeichnung der Figur beiträgt. Wenn Sörensen sich vorstellt mit den Worten: "Ich bin Sörensen. Ihr könnt mich Sörensen nennen", ist das nicht (nur) witzig gemeint, sondern Teil einer Figur, die mit ihrer Identität ringt. Die Kriminal-Geschichte ist, mmh, durchschnittliches TV-Niveau und dürfte noch etwas griffiger sein - aber wir sehen mit Vorfreude dem nächsten Teil entgegen!

 

Maria Tănase Keine Lust auf nix? Sie wollen einfach nur in der Ecke sitzen, Drogen nehmen und an die Decke starren? Da habe ich was für Sie - nicht die Drogen, aber eine Anregung für den akustischen Hintergrund: Hören Sie doch mal rein in die famosen Chansons der wunderbaren rumänischen Sängerin Maria Tănase, die schon 1963 verstorben war, und erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts diesseits des eisernen Vorhangs entdeckt wurde. Tolle, raumfüllende, melancholisch-lebenssüchtige Musik! Genau das Richtige, um in der Ecke zu sitzen und, nu, an die Decke zu starren...

 

Viele weitere Anregungen finden Sie in den Neuerscheinungen Februar 2021.

 

© j.c.schmidt, 2021

 

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