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Sara Paretsky: Ihr wahrer Name

Eine Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Piper Verlags.

 

Ihr wahrer Name »Sie wollten nicht mal die Beisetzungsfeier machen. Die Kirche war voll, die Frauen haben geweint. Mein Onkel war Diakon und ein rechtschaffener Mann. Als er gestorben ist, war er siebenundvierzig Jahre in der Kirche. Meine Tante ist völlig zusammengebrochen, das können Sie sich ja wahrscheinlich vorstellen. Die hatten doch tatsächlich den Nerv zu sagen, daß die Police bereits ausbezahlt worden ist. Aber wann? Das würde ich gern wissen, Ms. Warshawski, oder ob überhaupt. Mein Onkel hat fünfzehn Jahre lang seine fünf Dollar in der Woche eingezahlt, und meine Tante hat kein Wort davon gehört, daß er die Versicherung jemals beliehen oder sie sich auszahlen hätte lassen.«
      Isaiah Sommers war klein und stämmig und sprach langsam und gesetzt, als wäre er selbst Diakon. Ich hatte Mühe, während der Pausen, die er zwischen den Sätzen machte, nicht einzuschlafen. Wir saßen im Wohnzimmer seines Bungalows in der South Side. Es war kurz nach sechs, und der Tag hatte sich für meinen Geschmack schon viel zu lange hingezogen.
      Ich war bereits morgens um halb neun im Büro gewesen, um jene routinemäßigen Nachforschungen zu erledigen, aus denen meine Arbeit zum größten Teil besteht, als Lotty Herschel mich mit einer dringenden Bitte anrief. »Du weißt doch, daß der Sohn von Max Calia und Agnes aus London mitgebracht hat, oder? Und jetzt hat sich für Agnes plötzlich die Gelegenheit ergeben, ihre Dias in einer Galerie in der Huron Street zu zeigen, aber sie braucht einen Babysitter für Calia.«
      »Ich bin kein Babysitter, Lotty«, sagte ich ungeduldig. Calia ist die fünfjährige Enkelin von Max Loewenthal.
      Aber Lotty schenkte meinem Einwand keinerlei Beachtung. »Max hätte mich nicht angerufen, wenn jemand anders dagewesen wäre. Seine Haushälterin hat heute ihren freien Tag, und er muß zu dieser Konferenz im Hotel Pleiades, obwohl ich ihm tausendmal gesagt habe, daß er sich dort nur unnötig selbst zur Schau stellt – doch das spielt jetzt keine Rolle. Jedenfalls ist er mit seiner Diskussion um zehn dran – sonst hätte er selbst auf Calia aufgepaßt. Ich hab' Mrs. Coltrain bei mir in der Klinik gefragt, aber die haben alle zu viel zu tun. Michael probt den ganzen Nachmittag mit dem Orchester, und die Sache mit der Galerie könnte eine wichtige Chance für Agnes sein. Vic, ich weiß, daß ich dich überrumple, aber es wäre ja auch nur für ein paar Stunden.«
      »Warum fragst du nicht Carl Tisov?« erkundigte ich mich. »Der ist doch auch bei Max, oder?«
      »Carl und Babysitten? Wenn der seine Klarinette in der Hand hat, merkt er nicht mal mehr, wenn's das Dach über seinem Kopf vom Haus fegt. Das hab' ich selbst mal erlebt, bei den V-1-Angriffen. Kannst du mir sagen, ob du's machst oder nicht? Ich bin gerade bei meiner Runde in der Klinik und habe auch ansonsten ein volles Programm.« Lotty ist Leiterin der Perinatologischen Abteilung im Beth Israel Hospital.
      Ich versuchte selbst noch jemanden aufzutreiben und fragte auch meine Teilzeitassistentin, die drei Pflegekinder hat, aber niemand konnte mir helfen. Schließlich sagte ich Lotty mürrisch zu. »Ich hab' um sechs einen Termin bei einem Klienten ganz draußen in der South Side, also muß mich jemand bis spätestens fünf ablösen.«
      Als ich zu Max nach Evanston fuhr, um Calia abzuholen, war Agnes ziemlich hektisch, aber auch sehr dankbar. »Jetzt finde ich nicht mal mehr meine Dias. Calia hat mit ihnen gespielt und sie in Michaels Cello gesteckt, worüber er sich furchtbar aufgeregt hat. Und nun weiß er nicht mehr, wo er sie in seinem Zorn hingeschmissen hat.«
      Michael gesellte sich, mit einem T-Shirt bekleidet, den Cello-Bogen in der Hand, zu uns. »Tut mir leid, Schatz. Sie müssen im Wohnzimmer sein – da habe ich geübt. Vic, ganz herzlichen Dank, daß du uns hilfst. Dürfen wir dich und Morrell nach unserem Konzert am Sonntag nachmittag zum Abendessen einladen?«
      »Das geht nicht, Michael!« fuhr Agnes hastig dazwischen. »Da gibt doch Max die Dinnerparty für dich und Carl.«
      Michael spielt Cello im Cellini Chamber Ensemble, jenem Kammerorchester, das in den vierziger Jahren von Max und Lottys Freund Carl Tisov in London gegründet worden war. Der Auftakt der im Zweijahresturnus stattfindenden internationalen Tournee des Ensembles fand in Chicago statt. Außerdem sollte Michael ein paar Konzerte zusammen mit dem Chicago Symphony Orchestra geben.
      Agnes nahm Calia kurz in den Arm, bevor sie sagte: »Victoria, vielen, vielen Dank. Aber bitte tu mir den Gefallen und setz sie nicht vor den Fernseher. Sie darf nur eine Stunde pro Woche schauen, und amerikanische Sendungen sind meiner Meinung nach sowieso nicht für sie geeignet.« Dann hastete sie ins Wohnzimmer, und man konnte hören, wie sie auf der Suche nach den Dias wütend die Kissen vom Sofa riß. Calia verzog das Gesicht und nahm meine Hand.
      Schließlich zog Max ihr die Jacke an und sorgte dafür, daß ihr Hund, ihre Puppe und ihre »Allerlieblingsgeschichte« in ihrem kleinen Rucksack landeten. »Was für ein Durcheinander«, brummte er. »Man könnte meinen, die NASA startet ein Raumschiff. Lotty hat mir gesagt, daß du abends einen Termin in der South Side hast. Wir könnten uns um halb fünf im Foyer des Hotels Pleiades treffen. Bis dahin müßte ich eigentlich fertig sein und könnte dir diesen kleinen Wildfang wieder abnehmen. Wenn's irgendwelche Probleme gibt, kannst du mich über meine Sekretärin erreichen. Victoria, wir sind dir wirklich sehr dankbar.« Er begleitete uns nach draußen, wo er Calia auf die Stirn küßte und mich auf die Hand.
      »Ich hoffe, deine Diskussion wird nicht zu schmerzlich für dich«, sagte ich.
      Er lächelte. »Dann hat Lotty dir also von ihren Ängsten erzählt? Sie reagiert allergisch auf die Vergangenheit. Ich mag mich selbst auch nicht ständig damit auseinandersetzen, bin aber der Meinung, daß es gut ist, wenn andere Menschen sie verstehen.«
      Ich schnallte Calia auf dem Rücksitz meines Mustangs an. Die Birnbaum Foundation, die oft solche Veranstaltungen organisierte, hatte beschlossen, eine Konferenz zum Thema »Christen und Juden: ein neues Millennium, ein neuer Dialog« abzuhalten. Das Programm hatte die Stiftung veröffentlicht, nachdem eine Baptistengruppe aus den Südstaaten im gerade zu Ende gegangenen Sommer ihren Plan verkündet hatte, zur Bekehrung der Juden hunderttausend Missionare nach Chicago zu schicken. Diese Initiative der Baptisten war schließlich im Sande verlaufen, weil nur ungefähr eintausend hartgesottene Anhänger der Gruppe auftauchten. Ganz billig war die Sache für die Baptisten nicht, weil sie den Hotels Stornogebühren für die reservierten Zimmer zahlen mußten. Zu dem Zeitpunkt jedoch waren die Planungen für die Konferenz der Birnbaum Foundation bereits in vollem Gange.
      Max nahm an der Finanzdiskussionsrunde teil, was Lotty wütend machte: Er würde dabei seine Nachkriegserfahrungen im Zusammenhang mit seinem Versuch beschreiben, seine Verwandten und ihr jeweiliges Vermögen aufzuspüren. Lotty meinte, er stelle so nur sein persönliches Elend zur Schau und trage zur Verstärkung des Klischees vom Juden als Opfer bei. Außerdem gebe die Beschäftigung mit verlorengegangenen Vermögenswerten einer zweiten beliebten Klischeevorstellung Nahrung, nämlich daß alle Juden geldgierig seien. Doch darauf antwortete Max jedesmal: Wen interessiert das Geld hier denn wirklich? Die Juden? Oder nicht vielmehr die Schweizer, wenn sie sich weigern, es den Leuten zurückzugeben, die es verdient und auf Konten eingezahlt haben? Worauf stets eine heftige Auseinandersetzung folgte. In ihrer Gesellschaft zu sein, war in jenem Sommer ziemlich anstrengend gewesen.
      Auf dem Rücksitz hinter mir plapperte Calia fröhlich vor sich hin. Die Privatdetektivin als Babysitter: Dieses Bild kam einem nicht unbedingt als erstes in den Sinn, wenn man an Krimis dachte. Ich glaube nicht, daß Race Williams oder Philip Marlowe sich jemals als Babysitter betätigt haben. Am Ende jenes Vormittags kam ich zu dem Schluß, daß sie einfach nicht stark genug gewesen waren, um mit einem fünfjährigen Kind fertig zu werden.
      Als erstes ging ich mit Calia in den Zoo, weil ich dachte, das würde die Kleine so müde machen, daß sie sich hinterher ein bißchen ausruhen würde, während ich ein paar Arbeiten in meinem Büro erledigte, aber dieser Optimismus erwies sich als naiv. Sie malte ungefähr zehn Minuten lang mit ihren Buntstiften, dann mußte sie aufs Klo, wollte ihren Großvater anrufen, beschloß, mit mir in dem langen Flur des Lagerhauses, in dem sich mein Büro befindet, Fangen zu spielen, jammerte, sie sei trotz der Sandwiches, die wir im Zoo gegessen hatten, »schrecklich« hungrig, und verkeilte schließlich einen meiner Dietriche in der Rückseite des Fotokopierers.
      Da gab ich auf und fuhr mit ihr in meine Wohnung, wo mir die Hunde und mein Nachbar von unten Gott sei Dank zu ein wenig Ruhe verhalfen. Mr. Contreras, früher Maschinenschlosser und jetzt im Ruhestand, freute sich, sie auf dem Rücken durch den Garten zu tragen; die Hunde begleiteten sie. Ich ging unterdessen hinauf, um am Küchentisch ein paar Anrufe zu erledigen; die hintere Tür ließ ich offen, damit ich hörte, wenn die Geduld von Mr. Contreras sich erschöpfte, doch ich schaffte tatsächlich eine ganze Stunde Arbeit. Danach erklärte Calia sich bereit, zusammen mit den beiden Hunden Peppy und Mitch im Wohnzimmer zu sitzen und sich ihre »Allerlieblingsgeschichte« Der treue Hund und die Prinzessin vorlesen zu lassen.
      »Ich hab' auch einen Hund, Tante Vicory«, verkündete sie und holte ihren blauen Plüschhund aus dem Rucksack. »Er heißt Ninshubur, genau wie der in der Geschichte. In der Sprache des Volkes von der Prinzessin heißt Ninshubur ðtreuer FreundÐ.«
      Als Calia und ich uns knapp drei Jahre zuvor kennengelernt hatten, war sie noch nicht in der Lage gewesen, »Victoria« auszusprechen, und seitdem war es bei »Vicory« geblieben.
      Calia konnte noch nicht lesen, kannte die Geschichte aber auswendig und rief: »Denn lieber verliere ich das Leben als meine Freiheit«, als die Prinzessin sich in einen Wasserfall stürzte, um einer bösen Zauberin zu entgehen. »ðNinshubur, der treue Hund, sprang von Fels zu Fels, ohne auf die Gefahr zu achten.Ы Schließlich rettete er die Prinzessin aus dem Fluß.
      Calia drückte ihren blauen Plüschhund tief in das Buch und warf ihn dann auf den Boden, um seinen Sprung in den Wasserfall zu demonstrieren. Peppy, meine wohlerzogene Golden-Retriever-Hündin, saß in Habachtstellung und wartete auf den Befehl, das Plüschtier zu holen, während ihr Sohn sich sofort darauf stürzte. Calia schrie auf und rannte Mitch nach. Beide Hunde begannen zu bellen. Als ich Ninshubur endlich gerettet hatte, waren wir alle den Tränen nah. »Ich hasse Mitch. Er ist ein böser Hund, ich bin höchst verärgert über sein Verhalten«, erklärte mir Calia.
      Gott sei Dank war es mittlerweile halb vier. Ungeachtet der Bitte von Agnes setzte ich Calia vor den Fernseher, während ich mich duschte und umzog. Auch heute, in der Zeit der legeren Kleidung, erwarten neue Klienten ein professionelles Auftreten, und so schlüpfte ich in ein graugrünes Kostüm und einen rosafarbenen Seidenpullover.
      Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, lag Calia auf dem Boden, den Kopf auf Mitchs Rücken, Ninshubur zwischen seinen Pfoten, und protestierte heftig gegen meinen Vorschlag, Mitch und Peppy zu Mr. Contreras zu bringen.
      »Mitch wird mich verlassen und weinen«, jammerte sie, inzwischen so müde, daß nicht mehr vernünftig mit ihr zu reden war.
      »Weißt du was, mein Schatz? Wir bitten Mitch, Ninshubur eins von seinen Halsbändern zu schenken. Dann erinnert Ninshubur sich an Mitch, wenn er ihn nicht sehen kann.« Ich ging in die Abstellkammer und holte eines der kleinen Halsbänder, das ich verwendet hatte, als Mitch noch ein Welpe war. Calia hörte immerhin zu weinen auf, während sie mir half, es Ninshubur anzulegen. Schließlich befestigte ich noch ein paar von Peppys alten Hundemarken daran, die an dem kleinen blauen Hals lächerlich groß wirkten, Calia aber riesige Freude machten.
      Dann stopfte ich ihren kleinen Rucksack und Ninshubur in meine eigene Tasche und hob sie hoch, um sie zu meinem Wagen zu tragen. »Ich bin kein Baby mehr, ich will nicht getragen werden«, schluchzte sie, klammerte sich aber gleichzeitig an mich. Im Wagen schlief sie fast auf der Stelle ein.
      Eigentlich hatte ich vorgehabt, meinen Mustang die Viertelstunde, die ich brauchen würde, um Calia bei Max abzuliefern, beim Pförtner des Hotels Pleiades zu lassen, aber als ich am Wacker Drive vom Lake Shore Drive herunterfuhr, merkte ich, daß das nicht möglich sein würde, weil eine Menschenmenge die Zufahrt zum Hotel blockierte. Ich streckte den Kopf aus dem Fenster, um zu sehen, was los war. Offenbar handelte es sich um eine Demonstration mit Posten und Megaphonen. Fernsehteams vergrößerten das Chaos noch. Polizisten versuchten, Autos mit schrillen Pfiffen umzuleiten, aber es herrschte bereits ein solches Durcheinander, daß ich einige Minuten lang mit wachsender Frustration warten mußte, in denen ich überlegte, wo ich Max finden könnte und was ich mit Calia anstellen würde, die auf dem Rücksitz hinter mir tief und fest schlief.
      Ich holte das Handy aus meiner Tasche, aber der Akku war leer, und das Ladegerät fürs Auto befand sich in Morrells Wagen, mit dem wir vergangene Woche einen Tag aufs Land gefahren waren. Entnervt trommelte ich aufs Steuer ein.
      Trotz meiner Wut blieb mir nichts anderes übrig, als die Demonstranten zu beobachten, die sich für einander widersprechende Dinge einsetzten. Die eine Gruppe, die ausschließlich aus Weißen bestand, trug Schilder, auf denen sie die Verabschiedung des Illinois Holocaust Asset Recovery Act, eines Holocaust-Vermögensvergütungsgesetzes, forderte. »Keine Geschäfte mit Dieben«, skandierten die Leute, und: »Banken, Versicherungen, wo ist unser Geld?«
      Der Mann mit dem Megaphon hieß Joseph Posner. Er war in letzter Zeit so oft in den Nachrichten gewesen, daß ich ihn selbst in einer größeren Menschenansammlung als dieser erkannt hätte. Er trug den langen Mantel und den schwarzen Hut der Ultraorthodoxen. Als Sohn eines Holocaust-Überlebenden war er auf so ostentative Weise religiös geworden, daß Lotty nur noch das Gesicht verzog. Er protestierte gegen alles – mit Unterstützung christlicher Fundamentalisten gegen Pornofilme, aber auch gegen jüdische Geschäfte wie zum Beispiel Neiman-Marcus, die am Samstag geöffnet waren. Seine Anhänger, offenbar eine Mischung aus Jeschiwa und Jewish Defense League, begleiteten ihn überallhin. Sie bezeichneten sich selbst als Maccabees und schienen sich in ihren Aktionen an den militärischen Fähigkeiten ihrer historischen Vorbilder, der Makkabäer, zu orientieren. Wie eine immer größere Zahl von Fanatikern in Amerika waren sie stolz auf ihre Verhaftungen.
      Posners aktuellstes Projekt war der Versuch, die Regierung von Illinois dazu zu bringen, daß sie den Illinois Holocaust Asset Recovery Act, kurz IHARA, verabschiedete. Dieser IHARA, der sich am Vorbild von Florida und Kalifornien orientierte, untersagte es Versicherungsgesellschaften, sich innerhalb des Staates geschäftlich zu betätigen, solange sie nicht nachwiesen, daß in ihrem Unternehmen keine ausstehenden Lebens- oder Vermögensversicherungsansprüche von Holocaust-Opfern existierten. Er beinhaltete außerdem Klauseln bezüglich Banken und Unternehmen, die vom Einsatz von Zwangsarbeitern im Zweiten Weltkrieg profitiert hatten. Posner war es gelungen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf dieses Problem zu lenken und so eine Diskussion des Gesetzesentwurfs in einem Regierungsausschuß zu bewirken.
      Die zweite Gruppe von Demonstranten vor dem Hotel Pleiades, die hauptsächlich aus Schwarzen bestand, trug Schilder, auf denen der Satz »Verabschiedet den IHARA« dick und rot durchgestrichen war. Ihre eigenen Forderungen lauteten: »Keine Geschäfte mit Sklavenbesitzern« und: »Finanzielle Gerechtigkeit für alle«. Auch der Mann, der diese Gruppe anführte, war leicht zu erkennen: Es handelte sich um Alderman Louis »Bull« Durham. Durham hatte schon lange nach einem Thema gesucht, das ihn zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten für den Bürgermeister machen würde. Ich persönlich allerdings hielt den Protest gegen den IHARA nicht für eine Frage, die die ganze Stadt betraf.
      Posner hatte seine Maccabees und Durham seine eigenen militanten Anhänger. Er hatte sogenannte Empower-Youth-Energy-Teams aufgebaut, zuerst in seinem eigenen Bezirk, später in der ganzen Stadt, um die jungen Männer weg von der Straße und in Ausbildungsprogramme zu bringen. Aber manche dieser EYE-Teams, wie sie allgemein hießen, hatten auch eine düstere Seite. Man munkelte, daß Ladeninhaber, die sich Durhams politischen Kampagnen nicht anschlossen, vertrieben oder verprügelt wurden. Außerdem hatte Durham eine eigene Gruppe von EYE-Bodyguards, die ihn, bekleidet mit ihrem unverwechselbaren marineblauen Blazer, bei allen öffentlichen Auftritten umgaben. Falls Maccabees und EYE-Team vorhatten, aufeinander loszugehen, war ich froh, als Privatdetektivin in meinem Wagen zu sitzen, und nicht als Polizistin die Demonstranten auseinanderhalten zu müssen.
      Im Schrittempo fuhr ich am Hoteleingang vorbei und bog in Richtung Osten auf Höhe des Grant Park in die Randolph Street ein. Dort waren alle mit Parkuhren ausgestatteten legalen Parkplätze besetzt, aber, so dachte ich, die Polizisten hatten sicher vor dem Hotel Pleiades so viel zu tun, daß sie sich jetzt nicht um Parksünder kümmern konnten.
      Ich legte meine Tasche in den Kofferraum und holte Calia vom Rücksitz. Sie wachte kurz auf, dann sank ihr Kopf wieder auf meine Schulter. Sie würde also nicht selbst bis zum Hotel gehen. Ich biß die Zähne zusammen und trug ihre zwanzig Kilo stolpernd die Stufen zur tiefer gelegenen Ebene des Columbus Drive hinunter, wo sich der Seiteneingang des Hotels befand. Es war mittlerweile schon fast fünf Uhr: Hoffentlich würde ich Max ohne große Probleme finden.
      Wie ich gehofft hatte, befand sich vor dem unteren Eingang keine Menschenmenge. Ich ging mit Calia auf dem Arm an den Angestellten vorbei und fuhr mit dem Aufzug hoch zum Foyer. Hier waren genauso viele Leute wie draußen, allerdings ging es ruhiger zu. Hotelgäste und Teilnehmer an der Birnbaum-Konferenz drängten sich an der Tür und fragten sich besorgt, was da los sei und was man dagegen unternehmen könne.
      Ich machte mir wenig Hoffnung, Max in dieser Menge zu sehen, als ich ein mir bekanntes Gesicht entdeckte: Al Judson, der Chef des Hotelsicherheitsdienstes, stand neben der Drehtür und sagte gerade etwas in sein Funkgerät.
      Ich drückte mich zu ihm durch. »Wie geht's, Al?«
      Judson, ein Schwarzer von kleiner Statur, fiel in Menschenansammlungen nicht weiter auf. Als ehemaliger Polizist, der vierzig Jahre zuvor zusammen mit meinem Vater im Grant Park Streife gegangen war, wußte er, wie man brisante Situationen im Auge behielt. Als er mich sah, trat ein erfreutes Lächeln auf sein Gesicht. »Vic! Na, auf welcher Seite stehst du?«
      Ich lachte, wenn auch ein bißchen verlegen: Mein Vater und ich hatten uns seinerzeit in die Haare gekriegt, als ich an den Antikriegsdemonstrationen im Grant Park teilnahm, während er den dortigen Einsatzkräften zugewiesen wurde. Ich war damals noch ein Teenager gewesen, dessen Mutter im Sterben lag, und so verwirrt, daß ich selbst nicht wußte, was ich wollte. Also hatte ich mich eine Nacht lang den Yippies angeschlossen und mit ihnen den Park unsicher gemacht.
      »Eigentlich suche ich den Großvater des kleinen Mädchens hier. Aber sollte ich deiner Meinung nach raus auf die Straße?«
      »Tja, dann müßtest du dich zwischen Durham und Posner entscheiden.«
      »Ich weiß, daß Posners Kampagne gegen die Versicherungen gerichtet ist, aber was will Durham?«
      Judson zog die Schultern hoch. »Er will die Regierung dazu bringen, daß sie es Unternehmen untersagt, hier Geschäfte zu machen, wenn sie von der Sklaverei in den Vereinigten Staaten profitiert und den Nachkommen der Sklaven keine Entschädigung gezahlt haben. Seiner Meinung nach darf der IHARA erst dann verabschiedet werden, wenn diese Klausel darin aufgenommen wird.«
      Ich stieß einen leisen Pfiff aus: Der Stadtrat von Chicago hatte bereits eine Resolution verabschiedet, die Entschädigungszahlungen für die Nachkommen von Sklaven forderte. Aber solche Resolutionen sind nicht mehr als nette Gesten – Zugeständnisse an die jeweiligen Wahlkreise ohne tatsächliche Zahlungsverpflichtung. Es konnte gut sein, daß der Bürgermeister sich in eine prekäre Situation manövrierte, wenn er sich öffentlich Durhams Forderung widersetzte, aus der Resolution einen rechtskräftigen Beschluß zu machen.
      So interessant diese politische Frage auch war, im Augenblick konnte ich mich nicht damit auseinandersetzen, denn allmählich begannen meine Arme, sich gegen Calias Gewicht zu wehren. Außerdem wollte einer von Judsons Leuten unbedingt mit ihm reden. Also erklärte ich Al schnell die Sache mit Calia und Max. Er sagte etwas in sein Funkgerät, und schon wenige Minuten später tauchte eine junge Frau vom Sicherheitsdienst des Hotels zusammen mit Max auf, der mir Calia abnahm. Sie wachte auf und begann zu weinen. Max und ich hatten nur noch Zeit für ein paar geflüsterte Worte über die Diskussion, das Chaos vor den Hoteltüren und Calias Tag, bevor ich ihm die undankbare Aufgabe überließ, Calia zu beruhigen und sie zu seinem Wagen zu bringen.
      Während ich mich wieder im Schrittempo an den Demonstranten vorbei in Richtung Lake Shore Drive bewegte, nickte ich ein paarmal ein. Als ich schließlich Isaiah Sommers' Haus am Avalon Park erreichte, war ich zwanzig Minuten zu spät dran und unendlich müde. Er schluckte seine Verärgerung hinunter, und ich mußte mich sehr zusammenreißen, um nicht in seiner Gegenwart einzuschlafen.

 

 

Aus dem Amerikanischen von Sonja Hauser
© Piper Verlag, 2002
Alle Rechte vorbehalten!

 

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