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Murray Waldren: Dass Verbrechen sich lohne

 

Über Garry Disher und seinen Roman »Drachenmann«.

Aus dem australischen Englisch von Gerd Friedrich Marenke

 

Drachenmann Seine kompakte Erscheinung charakterisiert Garry Disher als den Jungen vom Land, der er war; seine Regale voller Auszeichnungen als den weltgewandten Schriftsteller, der aus ihm wurde. Und wenn die wahren Werte des Landlebens in der Nähe von Burra, der selbsternannten "Welthauptstadt der Merinowolle" in den Ebenen des mittleren Nordens Süd-Australiens nicht vergessen wurden, leben sie jetzt in einer von Reisen durch die Welt und den Geist geprägten Sicht der Dinge. Im australischen Literaturleben ist Disher der Hansdampf in allen Gassen mit Akubra-Hut, der redliche Handwerker, dessen Professionalität ihn durch alle Genres geführt hat. Er hat den Respekt von Verlegern, Kritikern und Lesern - und ist doch auch ein typisches Beispiel einer gering geschätzten Generation, jene Wortkünstler mittlerer Laufbahn, die den ungemütlichen Raum zwischen Bestsellerlisten und jugendlichem Ungestüm bewohnen.

Mit fünfzig gehört er nach Alter und Werk nicht mehr zum Nachwuchs, nach Verkaufszahlen und Erscheinung ist er weder Medienliebling noch angesehene Respektsperson. In den vergangenen 20 Jahren veröffentlichte er Kinderbücher (sein erstes, The Bamboo Flute, brachte im 1993 sowohl in Australien wie in den USA den Preis für das Buch des Jahres ein), Krimis und Romane (u. a. das von der Kritik gelobte »The Sunken Road«); er hat außerdem mehrere Bände mit Kurzgeschichten geschrieben und herausgegeben, ist ein gesuchter Anthologist, Schreiblehrer und Lehrbuchautor.

Dennoch: Auch nach 32 Büchern und nicht geringer Anerkennung "reicht es zum Leben, aber es ist knapp. Ich bekomme gerade ein Stipendium, aber die bekommt man selten, und sie reichen nicht lang. Finanziell gab es mehr Dürren als Fluten." Viel zu oft existieren gute Bücher und Autoren in Australien wie in einem toten Winkel: "Ich bin zum Beispiel sehr stolz auf »The Sunken Road« - es hatte zwei Auflagen in Großbritannien und wird gerade in Frankreich herausgebracht, aber hier bekam es nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient hätte."

Er macht trotzdem weiter, und mit der Hingabe des Getriebenen produziert er mehr als manch Spitzenposeur. Im letzten Monat veröffentlichte er »Below the Waterline«, eine Sammlung von Kurzgeschichten für HarperCollins. Und diese Woche erscheint mit Drachenmann sein neuester Kriminalroman, der ihm Anerkennung in ungekanntem Ausmaß bringen könnte. Er hat das richtige Tempo, die Spannung, fesselnde Plots, beziehungsreiche Landschaftsbilder. Darüber hinaus gibt es ein - für das Genre - untypisch entspanntes, introspektives Element: Personen entwickeln ihre Komplexität und nisten sich im Bewußtsein ein.

Heute lebt und arbeitet Disher in einem Farmhaus bei Merricks North auf der Mornington-Halbinsel - "es ist auf der Landkarte, hat aber keine Postleitzahl" - mit seiner Frau, einer Anthropologin, und Hannah, der vierjährigen Tochter. "Ich bin ein Spätstarter", sagt er abgelenkt nebenbei, als ich mit ihm telefoniere und erfahre, dass aus unserem vereinbarten Interviewtermin nichts wird, weil er Feiertagskinderdienst hat. Morgen wäre günstiger, das ist klar bei dem Trubel im Hintergrund. - Wenige Kilometer weg von den Buchten und Stränden der Halbinsel liegt das Farmhaus auf einem Hektar mit Koppeln und Bäumen, versteckt zwischen viel Obst, Wein und ein paar Pferdeboxen. Sein Drachenmann-Held Hal Challis lebt in derselben Umgebung, nur hat der ein moderneres Haus als der Autor, nicht 70 Jahre alt und auch nicht dringend reparaturbedürftig.

Die Weide gehört drei Schafen im Greisenalter, und Disher beschränkt seine Tätigkeit als "Farmer" darauf, dem Gras beim Wachsen zuzusehen und vorbeifliegende Vögel zu beobachten.

Hier schreibt er sechs Tage die Woche, "wann immer möglich", erst mit der Hand, bevor er es zum Bearbeiten auf den Computer überträgt. "Ab morgens 7.30 Uhr arbeite ich kreativ. Die Nachmittage sind fürs Tippen, Recherchieren, Überarbeiten. Manchmal brauche ich eine Woche für einen Absatz, manchmal fließen die Seiten." Fester Bestandteil ist dabei der tägliche Spaziergang, "um meinen Kopf freizukriegen und Probleme mit dem Plot zu lösen. Meine Bücher sind sehr sorgfältig geplant und strukturiert, und manchmal stoße ich auf einen Knoten, der sich nicht lösen will. Aber ein Spaziergang hilft immer."

Dies ruhige Leben im Farmhaus ist der Schlusspunkt einer Reise, die mit zwölf Jahren begann, als er die Schule in Burra verließ, um auf die Boy's High in Adelaide zu gehen: Das war ein richtiger "Kulturschock, dieser Wechsel von einer gemischten Schule mit 130 Mädchen und Jungen in einer Kleinstadt, wo du jeden kennst, auf eine reine Jungen-Schule mit 1000 Schülern in der Großen Stadt". Schüchtern und eingeschüchtert, fühlte er sich zum ersten Mal als Außenseiter. An der Universität von Adelaide belegte er im ersten Jahr Englisch ("was mir fast meine Liebe fürs Lesen ruiniert hätte"), bevor er auf Australische Geschichte und Philosophie umsattelte. Nach dem Abschluß folgte ein zweijähriger Arbeitsurlaub in England, Italien und Afrika, danach ließ er sich im Melbourner Stadtteil Fitzroy nieder, um an der Monash-Universität den Magister in Philosophie zu machen. Hier schrieb er seine Dissertation (»Popular inland and outback authors of the 1930s and 1940s«) und begann Kurzgeschichten zu schreiben.

"Als Kind wollte ich immer Schriftsteller werden, aber ich wusste nicht, wie man das macht. Als ich dann im Ausland war, fing ich an, ein Reisetagebuch zu führen. In Italien schrieb ich Anfänge zu ganz schlimmen Krimis, inspiriert von Zeitungsartikeln über einen gräßlichen Mordfall. An der Monash-Universität dachte ich, es wäre an der Zeit, etwas für meinen Traum vom Schreiben zu tun. Ich hatte das Riesenglück, dass Overland meine erste Geschichte annahm, und ich dachte, na, das war jetzt aber einfach. Dann kam natürlich die Realität - ich kassierte all die üblichen Ablehnungen."

1978 bekam er dennoch ein einjähriges Stipendium für kreatives Schreiben an der Stanford-Universität in Kalifornien, wo er mit einem Dutzend Mitschüler im Alter zwischen 20 und 65 zweimal die Woche in Workshops an Geschichten und Romanfragmenten arbeitete. "Dort lernte ich, besser zu schreiben, indem ich lernte, besser zu bearbeiten," sagt Disher. "Der Schriftsteller Robert Stone unterrichtete uns ein Semester lang, und er hat meine ersten Versuche regelrecht in der Luft zerrissen. Er lehrte mich, das richtige Wort an die richtige Stelle zu setzen, so dass ein Satz draus wird, und er brachte mir bei, den Gedanken hinter jedem Satz zu prüfen. Ich erkannte, wie nachgeäfft, abgedroschen und unehrlich ich oft war." Die Lektion hat er gelernt: "Jetzt schreibe ich beim Schreiben immer neu, durchforste und streiche endlos Sätze und murmele "Arschloch" vor mich hin."

Von Kalifornien ging es zurück nach Fitzroy und einer Laufbahn als Vollzeitlehrer/Teilzeitschreiber. "Ich unterrichtete ein Jahr lang, ohne dafür qualifiziert zu sein, bis man mir dringend riet, etwas dagegen zu tun." Mehr Uni, diesmal LaTrobe zwecks Diplom in Erziehungswissenschaft. 1988 stieg er um auf Nullzeitlehrer/Vollzeitschreiber - "Mein Einkommen stürzte ab, aber ich war viel glücklicher" - und zog kurz darauf nach Mornington.

In Krimikreisen wird Disher umjubelt für seine Wyatt-Serie um einen hartgesottenen Outlaw, einen Anti-Helden, der in gewisser Weise das Genre neu definiert hat. Nur ärgerlich, dass die Verkaufszahlen nicht so groß wie die Bewunderung waren. Das ist einer der Gründe, warum Wyatt jetzt "erstmal ausgesetzt ist. Außerdem brauchte ich eine Pause von ihm - die Gefahr bestand, dass die Serie zu formelhaft würde, und ich fühlte, dass ich ihn weit genug entwickelt hatte. Und trotz der guten Kritiken hier und im Ausland lief der Verkauf in Australien eher bescheiden."

Nach den Gründen befragt, sagt er: "Vielleicht liegt es daran, dass Wyatt ein Outlaw ist (was amerikanische Verleger abschreckte, den schwunghaften Import seiner Bücher durch die Buchhändler aber nicht verhinderte) oder weil Wyatt den Frauen zu sehr Kerl war. Die begeistertste Fanpost bekam ich aber von Frauen... es ist mir wirklich ein Rätsel."

Challis ist nicht Wyatt, obwohl sie eine manische Konzentration auf das teilen, was vor ihnen liegt. Er ist auch nicht Dischers Ebenbild, aber sie teilen die Landschaft und die Probleme mit dem Wassertank. "Ich weiß wie es ist, wenn das Wasser ausgeht und du die Haare und Augen voll Shampoo hast," lacht er. "Es wäre doch eine Schande, solche Erfahrungen brach liegen zu lassen." Bei der Schaffung einer Person versucht er aber, "in die Haut von jemand zu schlüpfen, der anders ist als ich. Ich urteile nicht, ich versuche nur zu verstehen und mitzufühlen." (Er gibt jedoch zu, dass es da ein Element der Wunscherfüllung bei Wyatt gegeben hätte: "Er ist dem ganzen Durcheinander nicht ausgesetzt, den Kompromissen und der Unentschlossenheit, die ein normales Leben belasten - er ist immer cool, zielstrebig und genau. Und wer wäre nicht gern so?")

Der Triumph-Fahrer Challis ist Inspektor bei einer regionalen Mordkommission und wie Wyatt ein Außenseiter ("das Genre gab den Anstoß," sagt Disher und bestreitet, dass es mit ihm selbst zu tun hat. "Die Leser identifizieren sich mit Außenseitern - sogar eine Figur wie Sarah Paretskys V. I. Warshawski, die ein großes Netzwerk an Helfern unter Freunden und Verwandten hat, ist letztlich allein, wenn sie den Fall lösen muss.") Zum Drachenmann wurde Disher teilweise durch die Romane des englischen Schriftstellers John Harvey inspiriert, der "eine zentrale Figur in einen räumlich begrenzten Schauplatz mitsamt Ensemble-Besetzung stellt; es gibt zwar ein ordentliches Hauptverbrechen, aber darüber hinaus ein Nebenprogramm an damit verbundenen kleineren Untaten. Das erlaubt schöne Verzweigungen." Und manch hübsche literarische Note, etwa den das Wesen des Helden vermittelnde Feldweg, den Challis zwischen seinem Haus und der realen Welt nehmen muss: Im Winter gibt es "Schlaglöcher, Schlamm und kleinere Überschwemmungen; im Sommer Wellen und tückische weiche Ränder".

Für Challis (und auch für seinen Schöpfer, ahnt man) ist die Landung auf der Mornington-Halbinsel, als "wäre er endlich nach Hause gekommen", nachdem er sein Berufsleben lang kreuz und quer durch den Staat geschickt wurde, um Morde und Entführungen aufzuklären. Er kommt dennoch nicht zur Ruhe - seine selbstmörderische Frau ist im Gefängnis, verurteilt, weil sie sich mit ihrem Liebhaber verschwor, ihn zu ermorden, seine Freundin ist investigative Journalistin, die Polizisten um ihn herum geben sich mit Kriminellen ab und kompromittieren sich. Ein Kollege drückt es so aus: "Er blickte hinunter auf ein langes Unglück, und sie glaubte nicht, dass es jemals ein Ende hat." Oder, wie Challis sagt: "Ich erkenne, dass ich anders bin, ich bin getrennt von allen anderen. Niemand sagt ’Komm rein zu uns', sie sagen ’Bleib da draußen und behüte uns'."

Disher sagt: "Drachenmann gibt auch ein realistisches Bild der Polizeikultur wieder - die Gesellschaft erwartet, dass Polizisten sauber und über jeden Vorwurf erhaben bleiben. Aber Challis ist klar, dass auch sie Fehler machen wie wir alle, Druck ausgesetzt sind und Versuchungen. Er verzeiht vielleicht nicht, aber er versteht." In all dem Durcheinander hat Challis ein geheimes Leben als Restaurator historischer Flugzeuge. Sein ganzer Stolz ist eine Dragon Rapide, die er akribisch rekonstruiert. "Das war ein bisschen berechnet," sagt Disher. "Ich wusste, dass er im Privaten von etwas besessen sein musste, um ihn klar zu zeichnen, aber ich wusste nicht was. Dann besuchte ich eine Luftfahrtschau hier in der Gegend und war fasziniert von diesen restaurierten Propellermaschinen aus der Zeit zwischen den Kriegen. Und ich fragte mich, was das für Enthusiasten sind, welchen Trost es ihnen wohl spendete, solche Flugzeuge zu restaurieren."

Kriminalromane tragen noch immer schwer an einem unverdienten Stigma, abgetan als vorhersehbar und zu leicht gewogen von jenen, die es besser wissen müssten. Falls das jemals gestimmt hat, ist das heute nicht mehr so - denken Sie Elmore Leonard, James Ellroy, Carl Hiaasen, Patricia Cornwell, Martin Amis, Michael Connelly, Iain Banks, Ian Rankin... und schreiben Sie den Namen Disher dazu. Das Genre weist die originellere, gut gestrickte Schreibe auf, greift soziale Fragestellungen auf und ist so voll mit Action, dass das Umblättern nervt. Literarisch und unterhaltsam - seit wann ist das strafbar?

 

© Murray Waldren, 1999
All rights reserved.

© der deutschen Übersetzung: Gerd Friedrich Marenke, 2001
Alle Rechte vorbehalten

 

Dining Out with Mr. Lunch

Weitere Artikel, Porträts und Interviews des australischen Kritikers und Journalisten Murray Waldren finden Sie auf seiner Homepage Literary Liaisons unter http://members.ozemail.com.au/~waldrenm/.
Wenn Sie nicht gerne am Bildschirm lesen, möchten wir Ihnen Murray Waldrens letztes Buch Dining out with Mr. Lunch empfehlen, das 35 literarische Porträts enthält, etwa P.D. James, Richard Ford, Fay Weldon, Oliver Sacks, Anne Fine, Mordecai Richler, Timothy Mo, J.P. Donleavy, Ann Oakley, Kinky Friedman, Brian Keenan, Roald Dahl, Paulo Coelho, Alberto Manguel, Luisa Valenzuela und viele andere.

 

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