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Der Junge, der den Wölfen entkam

Über Dennis Lehanes Roman »Spur der Wölfe«

 

Spur der Wölfe Dorchester, Massachusetts, Mitte der Siebziger Jahre: Zwei Jungen prügeln sich auf einer Straße, bis schließlich eine Zivilstreife dem kindlichen Zwist ein Ende setzt. Die Cops kutschieren einen der Streithähne nach Hause. Dort bekommt der Junge heftig Ärger mit seiner Mutter. Doch diese erbost sich nicht über die "Schande", die Polizei im Hause zu haben. Die Frau ist aufgebracht, weil ihr Sohn nicht sicher sein konnte, dass er tatsächlich zu Polizisten ins Auto gestiegen war.
Der Junge hieß Dennis Lehane.
Fünfundzwanzig Jahre später, mittlerweile gefeierter und mit Preisen überhäufter Autor, wählt Dennis Lehane diese Episode als Fundament seines Romans »Spur der Wölfe« - und macht daraus ein außergewöhnliches Werk um Schuld und Sühne.

Jimmy Marcus, Sean Devine und Dave Boyle bildeten in ihren Kindertagen im Bostoner Arbeiter-Vorort Buckingham ein unzertrennliches Gespann - bis zu jenem Tag, an dem Dave in das Auto zweier Männer stieg, die sich als Polizisten ausgaben. Vier Tage war der elfjährige Junge verschwunden, doch schließlich entfloh er seinen Peinigern. Von dem Tag an ist für die drei Kids alles anders: In Jimmy Marcus' Wesen nistet sich eine tiefe Traurigkeit ein, die er nie wieder verlieren wird. Sean zergeht in Selbstvorwürfen und quält sich mit der Frage, warum es nicht ihn, sondern seinen Freund Dave getroffen hat. Und Dave - Dave spaltet seine geschundene Seele in sein altes Ich und in den "Jungen, der den Wölfen entkam".

Fünfundzwanzig Jahre sind vergangen, und wieder führt ein schreckliches Ereignis die Freunde aus Kindertagen zusammen: Jimmy Marcus neunzehnjährige Tochter Katie wurde in einem Bostoner Park ermordet aufgefunden. Den Fall bearbeitet Seargeant Whitey Powers von der Massachusets State Police mit einem Trooper, der sich nach einigen dienstlichen Verfehlungen in der Behörde bewähren muss: Sean Devine.

Die Ermittler konstruieren einen Tathergang, der seltsam anmutet: Nach einer Sause mit zwei Freundinnen hatte Katie ihren Wagen in einer Straße nahe des Parks abrupt gegen den Bordstein gesetzt und den Motor abgewürgt.

Einer Zeugin zufolge habe sie draufhin jemanden begrüßt und sei nach einem Knall in den Park gerannt. Die Spuren belegen, dass die panische, junge Frau schneller als ihr Verfolger war - warum rannte Katie immer weiter in die tödliche Falle, statt auf eine belebte Straße zurückzukehren? Warum finden sich auf dem tiefen, vom Regen durchweichten Boden nur Abdrücke des flüchtenden Mädchens, aber keine ihres Mörders?

Trooper Devine und Sergeant Powers konzentrieren ihre Untersuchungen auf das persönliche Umfeld des Opfers: einen Ex-Freund, der das Wort "Schluss" nur akzeptieren kann, wenn es aus seinem Mund kommt. Einen schüchternen, jungen Mann, der sich als Katies heimlicher Geliebter entpuppt. Und schließlich Dave Boyle, "der Junge, der den Wölfen entkam": In zwei Kneipen kreuzten sich seine und Katies Wege an ihrem letzten Abend. Verdächtig macht sich Boyle, da die Cops ihm mehrere Falschaussagen nachweisen können. Selbst Daves Frau will seiner Geschichte immer weniger Glauben schenken.

Wer Dennis Lehanes Romane um das Bostoner Privatdetektiv-Duo Angela Gennaro und Patrick Kenzie kennt, muss sich mit seinem druckfrischen Werk »Spur der Wölfe« umstellen - das Buch ist langsamer und kommt ganz ohne action aus. Aber schon nach ein paar Seiten nimmt Lehane seine Leser in den Würgegriff und lässt ihn auf den fünfhundert folgenden nicht wieder los. Lehane schreibt so dicht an seinen Charakteren, dass man meint, die Grenzen zwischen Buch und Leser lösen sich auf. Er findet Bilder, die an Eindringlichkeit kaum zu überbieten sind: Jimmys Gedanken etwa, als er im Bestattungsinstitut mit dem Angestellten die Details der Zeremonie durchgeht, während im Keller unter ihm kalte, behandschuhte Finger seine Tochter einbalsamieren.

Der Roman ist ungemein dicht: Die Verbindungen zwischen den Figuren sind so vielschichtig, dass das Geflecht nicht zu zerreißen ist - auch nicht am Ende, an dem Jimmy Marcus, die zentrale Figur des Romans, feststellen muss, dass der Tod seiner Tochter auf mannigfaltige Art mit seiner eigenen Geschichte verbunden ist. Die Dämonen der Vergangenheit mutieren zu Vampiren der Seele. Die Geburtstunde eines neuen Zombies?

Alle Romane von Dennis Lehane sind tiefgehende Reflektionen über die Bedigungen moralischer Integrität. Mit »Spur der Wölfe« hat Lehane seinen bisher eindrucksvollsten - und ergreifendsten - Ausdruck gefunden.
Das ist kein Krimi, das ist große Literatur.

 

© j.c.schmidt, 2002

 

Dennis Lehane: Spur der Wölfe. (Mystic River, 2001). Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer. Deutsche Erstausgabe. Berlin, München: Ullstein, 2002, 510 S., 22.00 Euro (D)

 

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