kaliber .38 - krimis im internet

 

Krimi-(Vor-)Auslese 06/2020

 

Heidefieber Da wackelt doch die Heide! Ein Krimi von Gerhard Henschel mit dem Titel Soko Heidefieber (Hoffmann und Campe). Das Buch ist ein Regional-Krimi über Regionalkrimis, entsprechend vom Verlag als "Überregionalkrimi" ausgewiesen. Die Story: Ein Serienmörder hat es abgesehen auf die Verfasser von Regio-Krimis und meuchelt die Autoren so, wie sie es selbst in ihren Romanen ersonnen hatten. Gemordet wird bald bundesweit: Es trifft Granden des Genres, wie den Verfasser des "Eidelstedter Blutbogen", den Autor des Bestsellers "Showdown auf Juist" und den Schriftsteller Armin Breddeloh, der gerade mit seinem neuen Krimi "Heidefieber" reüssiert. Die Polizei tappt - richtig! wo sonst? - im Dunkeln, und ein vom Verband deutschsprachiger Krimiautoren engagierter Privatdetektiv kommt auch nicht voran. Schließlich nimmt sich ein Lokaljournalist aus Uelzen der grausamen Taten an und entdeckt den entscheidenden Hinweis.
      Wir freuen uns auf lustvoll-fröhliches Spielen mit Klischees - und hoffen, dass Henschels Text nicht ins Leere läuft, wo doch der Höhepunkt an Regio-Krimis lange überschritten ist. Genauer: Der deutsche Provinz-Krimi spielt mehrheitlich nicht mehr in Ostwestfalen, Niederbayern oder in der Uckermark - der deutsche Regio-Krimi spielt in der Provence, der Toskana, auf Kreta oder Korsika, an der Algarve oder in der Bretagne. Über ein gepflegtes Henschel-Gemetzel an den Verfassern (und Verlegern!) dieser Texte hätten wir uns noch mehr gefreut!

 

Rückkehr nach Duncan's Creek Mit der Poesie verlassener Tankstellen am Highwayrand wartet der Roman Rückkehr nach Duncan's Creek des französischen Autors und Übersetzers Nicolas Zeimet auf (Polar Verlag, dt. von Roland Voullié, Nachwort von Thekla Dannenberg). Das Buch ist ein Roadmovie aus den kargen Weiten des amerikanischen Westens: Jake Dickinson kehrt zurück von Los Angeles nach Utah in sein Heimatkaff Duncan's Creek. In seinem Gepäck hat er die Asche seiner verstorbenen langjährigen Freundin Sam, die auch aus dem kleinen Ort stammt. Jake folgt Sams Bitte und bringt die Überreste der Verstorbenen nach Hause. Der Dritte im Bunde ist ihr gemeinsamer Jugendfreund Ben. Die drei Freunde aus Kindheitstagen sind verbunden und gleichzeitig getrennt durch ein düsteres Geheimnis, das sie seit langen Jahren mit sich tragen und das ihr Leben schicksalhaft prägt. "Ich weiß", zitiert Zeimet Joyce Carol Oates im Motto des Buches, "wenn du dich nicht um deine Vergangenheit kümmerst, kümmert sie sich eines Tages um dich".
      "Rückkehr nach Duncan Creek" wechselt von Kapitel zu Kapitel zwischen Vergangenheit und Gegenwart und entfaltet Stück für Stück ein Roadmovie über Freundschaft, Liebe und Gewalt. Der Roman wurde in Frankreich mit dem "prix Dora-Suarez" ausgezeichnet, benannt nach der Figur aus dem Roman "Ich war Dora-Suarez" des englischen Kult-Autors Robin Cook, der - hier der Zusammenhang zu "Duncan's Creek" - die ganz dunklen Bereiche einer kaputten Gesellschaft literarisch ausleuchtete.

 

Brandsätze Fast wöchentlich flimmern wackelige Handyvideos über die Bildschirme, die brutale Übergriffe weißer amerikanischer Cops auf Schwarze dokumentieren. Da gibt's nicht viel zu deuteln, wer Täter und wer Opfer ist. Etwas brüchiger ist die Linie, die Steph Cha in ihrem Roman Brandsätze (ars vivendi, dt. von Karen Witthuhn) zeichnet: Die 27-jährige Grace Park arbeitet in der Apotheke ihrer Eltern, die aus Korea nach Los Angeles emigriert waren. Das Verhältnis der ergebenen Tochter zur Familie bekommt Risse, als sie erfährt, dass ihre Mutter zu Beginn der 1990er Jahre das schwarze Mädchen Ava Matthews erschossen hat, weil die Mutter das Mädchen für eine Ladendiebin hielt. Shawn Matthews, der Bruder des getöteten Mädchens, der Zeuge der Bluttat war, hat resigniert und Politik und Protest entsagt. Er lebt ein ruhiges Leben im bürgerlichen Palmdale, nördlich von Los Angeles. Als es in Los Angeles erneut zu einem Zwischenfall kommt, bei dem ein schwarzer Jugendlicher von der Polizei getötet wird, entfaltet sich ein politischer Sturm, der die disparaten Lebensläufe der Familien Park und Matthews durcheinander wirbelt.
      Kriminalliterarische Texte vor dem Hintergrund rassistischer Gewalt füllen ganze Regale. Steph Cha aber bringt eine neue, spannende ethnische Perspektive ein, in der keine Seite die gesellschaftliche Macht über die Deutungshoheit der Ereignisse hat. Cha war schon an anderer Stelle in das Thema involviert - vor zwei Jahren hatte sie sich publizistisch gegen die Ernennung der Krimi-Autorin Linda Fairstein zum Grandmaster der Mystery Writers of America engagiert. Fairstein, auch in Deutschland in der ersten Dekade des Jahrhunderts als Autorin populär, hatte 1989 als Leitende Staatsanwältin in New York eine tragende Rolle bei einem Fehlurteil gegen fünf Schwarze Jugendliche gespielt, die fälschlicherweise zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden (Stichwort "Central Park Five", wenn Sie sich in Details zu dem Fall vertiefen möchten). Eine kritische Revision ihres Handelns oder gar eine Entschuldigung Fairsteins soll es nie gegeben haben. Die Mystery Writers of America gaben dem von Cha und anderen entfachten öffentlichen Druck nach, und zogen die Ernennung wieder zurück.
[Der Erscheiungstermin wurde kruzfristig auf Ende August verschoben!]

 

Dr. Siri und die Spiele der Rattenfänger Immer charmant sind die Texte des Engländers Colin Cotterill: Dr. Siri und die Spiele der Rattenfänger heisst sein jüngst auf Deutsch erschienenes Buch (Goldmann, dt. von Thomas Mohr). Der Roman ist der mittlerweile zwölfte Band einer Reihe um den alten Pathologen Dr. Siri Paiboun und sein verschrobenes Team aus der Demokratischen Volksrepublik Laos. Wir sind im Jahr 1980 und die Laoten fiebern voller Stolz und Freude den Olympischen Spielen in Moskau entgegen - den ersten Olympischen Spielen überhaupt an denen das kleine Land teilnehmen wird, dank des Boykotts des Westens als Folge des russischen Afghanistan-Einmarsches. Dr. Siri, fast achtzig Lenze in den ollen Knochen und eigentlich schon in Rente, hat sich als medizinischer Berater in das Team eingeschlichen. Ebenfalls eingeschlichen hat sich ein falscher Schütze in das Sportlerteam, und der Leichenbeschauer Siri sieht sich mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, erstmals ein Verbrechen aufklären zu müssen, bevor es überhaupt stattgefunden hat. "Dr. Siri und die Spiele der Rattenfänger" verheisst unterhaltsame, detailverliebte und gut gemachte Kost.
      Der Verfasser Colin Cotterill ist nicht nur Autor, sondern auch Cartoonist und überhaupt ein guter Mensch, der sich seit langen Jahren über den halben Globus hinweg für Bildungs- und Kinderschutzprogramme engagiert. Ruhm und Reichtum und viele verkaufte Bücher seien ihm von ganzen Herzen gegönnt!

 

Seitensprung Warum Jason Starr es immer noch nicht in die erste Reihe der Kriminalliteratur geschafft hat, ist eines der Mysterien des Genres. Der New Yorker Autor liefert seit knapp einem Vierteljahrhundert gute Krimi-Qualität in der Tradition von Patricia Highsmith. Sein Thema sind die Zwänge der Mittelschicht und die - meist - zum Scheitern verurteilten Ausbrüche aus eben diesen. In seinem neuen Roman Seitensprung (Diogenes, dt. von Thomas Stegers) erzählt Starr vom New Yorker Jack Harper, einst ein Rock'n'Roller, jetzt Immobilienmakler in der Midlife-Crisis und trockengelegter Alkoholiker. Harper muss sich gehörig anstrengen, um ein durch und durch langweiliges Leben finanziell zu stemmen, und auch seine Ehe ist an einem sex- und emotionslosem Tiefpunkt angekommen. Einen Ausweg aus der Lebenskrise glaubt er im Internet zu finden - auf einem Seitensprungsportal. Doch das erotische Intermezzo endet anders als erhofft: Die begehrte Dame liegt tot auf dem Boden ihrer Behausung, erwürgt mit einer roten Krawatte. Harper gerät ins Visier der Cops und gerät mit seinen Entscheidungen sukzessive in einen Strudel, der ihn immer weiter runterzieht. Jason Starrs Romane eignen sich nicht fürs große Breitwandformat, sondern sind kriminalliterarische Kammerspiele.

 

Bermuda Abschließend erfrischender Trash: Bermuda heisst ein Horror-Thriller von Thomas Finn (Knaur Verlag): Der Autor gruselt uns mit einer Erzählung über eine Gruppe Schiffbrüchiger, die auf einer unheimlichen Vulkan-Insel im Bermuda-Dreieck landen. Das Eiland, auf dem weder Handys noch Kompass funktionieren, erweist sich als tödliche Falle. Die Leseprobe bestätigt, was wir uns versprochen haben: "Bermuda" ist nicht die Hohe Kunst der literarischen Feinmotorik, sondern herrlicher Quatsch zum flinken Wechmömmeln, voller Klischees und verbrauchter Bilder, über die sich - da schließt sich der Kreis - Gerhard Henschel so schön lustig macht. I love it!

 

Viele weitere Anregungen finden Sie in den Neuerscheinungen Juni 2020.

 

© j.c.schmidt, 2020

 

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