kaliber .38 - krimis im internet

 

Krimi-(Vor-)Auslese 05/2020

 

American Dirt Sabberlott - da wollte ich gerade das Horn an die gespannten Lippen führen und mit einer feierlichen Fanfare einen neuen James Ellroy-Roman annoncieren, da sehe ich, dass der Erscheinungstermin flugs auf September verschoben wurde. Corona ist blöd! Ersatz verspricht - zumindest dem Titel nach - ein Roman einer mir noch unbekannten Autorin: American Dirt, so der attraktive Titel des Buches, geschrieben von der jungen amerikanischen Autorin Jeanine Cummins (Rowohlt, dt. von Katharina Naumann). "Eine Mutter und ihr Kind auf einer atemlosen Flucht durch ein Land, das von Gewalt und Korruption regiert wird", heisst es da. Eben war Lydia noch ehrbare Buchhändlerin, jetzt befindet sie sich Machete bewaffnet in einem Hochgeschwindigkeitszug. Den Grund erfahren wir auch: "Lydias gesamte Verwandtschaft wird von einem Drogenkartell ermordet. Nur Lydia und ihr kleiner Sohn Luca überleben das Blutbad und fliehen in Richtung Norden. Sie kämpfen um ihr Leben.". Hammer! Klingt nach barrierefreier Unterhaltung - also doch ziemlich weit entfernt vom eingangs genannten James Ellroy.

 

Die Schuld der Väter Dann vielleicht lieber Bewährtes: Vom großen James Lee Burke ist der Dave-Robicheaux-Krimi Die Schuld der Väter in Neuausgabe bei Pendragon erschienen (dt. von Georg Schmidt). Mit alttestamentarischer Wucht erzählt Burke die Geschichte vom Mord an einer 16-jährigen Schülerin, der die Menschen in New Iberia aufschreckt. Spuren am Tatort weisen auf einen schwarzen Cajun-Musiker, doch Robicheauxs Ermittlungen führen tiefer in die Vergangenheit zur Großmutter des tatverdächtigen Musikers und einem ehemaligen Plantagenaufseher. Nach einem weiteren Mord wird's richtig eng - diesmal ist das Opfer die Tochter eines berüchtigten Gangsters aus New Orleans, der nicht auf Robicheauxs Ermittlungsergebnisse warten, sondern die Dinge in die eigene Hand nehmen will. Der Texaner James Lee Burke ist mittlerweile seit mehr als einem halben Jahrhundert literarische aktiv, »Die Schuld der Väter« ist der zwölfte Teil seines tiefgründigen, mit großer Prosakunst (und Furor) verfassten Südstaaten-Epos um Dave Robicheaux. Übrigens: Es gibt zwei richtig tolle Burke-Verfilmungen: "Mississippi Delta - Im Sumpf der Rache" mit Alec Baldwin als Robicheaux und »Mord in Louisiana« mit Tommy Lee Jones in der Rolle des alkoholkranken Cops / Detektivs. Wenn Sie etwas abendliche Abwechslung in der Glotze brauchen, hilft der gut sortierte Videoladen gerne weiter.

 

Gone Baby Gone Einer der wenigen, der auf Augenhöhe mit dem großen James Lee Burke schreibt, und, wie Burke, immer wieder das Thema Schuld und Vergebung literarisch bearbeitet, ist Dennis Lehane. Von Lehane gibt's leider auch keinen neuen Roman zu vermelden, aber immerhin eine Neuübesetzung: Gone Baby Gone (Diogenes, dt. von Peter Torberg), der bereits im Jahre 2000 unter dem Titel »Kein Kinderspiel« bei Ullstein erschienen war. Der Roman erzählt von einem der finstersten Fällen des Bostoner Privatdetektiv-Duos Angela Gennaro und Patrick Kenzie: Ein vierjähriges Mädchen wurde entführt, ihre alleinerziehende und drogenabhängige Mutter hatte das Kind unbeaufsichtigt gelassen. Als bei einer versuchten Lösegeldübergabe gleich mehrere Menschen getötet werden, wird den Ermittlern klar, dass hinter der Entführung noch viel mehr steckt, als ursprünglich vermutet. Kenzie und Gennaro geraten in einen finsteren Abgrund - und beruflich und persönlich an ihre Grenzen. Schließlich müssen sie sich entscheiden zwischen Recht und Gerechigkeit - eine Entscheidung, die sie, soviel darf man verraten, innerlich wie äußerlich zerreißen wird. Auch hier: Wenn Sie sich derzeit nicht so aufs Lesen konzentrieren können, »Gone Baby Gone« wurde 2007 von Ben Affleck mit beachtlichem Staraufgebot verfilmt. Es gibt aber deutlich grandiosere Lehane-Verfilmungen: Gaaaanz großes, von schauspielerischer Kunst getragenes Kino etwa ist die Clint-Eastwood-Version des Lehane-Romans »Die Spur der Wölfe« mit Sean Penn, Tim Robbins und Kevin Bacon. Oder auch: Tolles Ausstattungs-Kino ist Martin Scorseses Adaption des düsteren Lehane-Romans »Shutter Island» mit Leonardo DiCaprio und Emily Mortimer. Oder auch »The Drop«... herrje - ich gerate ins Schwärmen und vergesse mich...

 

Visitation Street Doch noch was Neues: Vor einem Jahr war Ivy Pochodas Deutschland-Debüt Wonder Valley erschienen, ein episodenhaft erzählter Los-Angeles-Roman. Spiegel Online befand damals, Ivy Pochoda sei "DIE Stimme ihrer Region" und meinte, Pochodas Buch sei für das LA-Viertel Skid Row so bedeutend wie "Daniel Woodrell für die Ozarks". Mit Visitation Street kommt dieser Tage ein neuer Ivy-Pochoda-Roman in die Buchhandlungen, der in den USA bereits 2013 und damit einige Jahre vor "Wonder Valley" erschienen war - übrigens bei Ecco, einem Imprint des HarperCollins Verlags, wo Pochodas Buch (und hier schließt sich der Kreis) von Dennis Lehane betreut wurde. »Visitation Street« spielt nicht in Los Angeles, sondern in New York, genauer in der blue-collar neighborhood Red Hook in Brooklyn. Pochoda erzählt von einem tragischen Ereignis: In einer heißen Sommernacht paddeln zwei Mädchen im Teenager-Alter aufs Meer hinaus, und nur eine der beiden kehrt, halb bewusstlos, wieder an Land zurück. Pochoda nimmt das Ereignis nicht als Anlass, um eine klassische Krimistory oder gar einen rasanten Thriller zu entfallen, sondern analysiert die Bindungen in der Community und wie sich diese nach Todesfall verändern. Der Verlag verspricht: "In einer kristallklaren Sprache erzählt Ivy Pochoda von der menschlichen Zerbrechlichkeit und Widerstandskraft, von Hoffnungsschimmern in der Trostlosigkeit...". Das kann man doch gut gebrauchen in diesen Tagen!
[edit: erscheinungstermin leider auch auf august 2020 verschoben. sorry dafür...]

 

Kilometer 123 Nichts gegen schmale Erzählungen: Andrea Camilleris aktueller Kriminalroman, der unter dem Titel Kilometer 123 erscheint (Kindler, dt. von Annette Kopetzki), umfasst gerade einmal - so entnehmen wir es jedenfalls den Bibliothekskatalogen - 142 Seiten. Die Geschichte um einen untreuen Mann, seine Frau und seine Geliebte, um eine SMS, die von den falschen Augen gelesen wird, und einen Unfall bei Kilometer 123 der via Aurelia, der wahrscheinlich gar kein Unfall war, verspricht eine konzentrierte Kriminalgeschichte auf engem Raum. Schmerzlich: Kindler ruft für die Hardcover-Ausgabe des kurzen Textes 22.00 Euro auf - für die elektrische Ausgabe tolle 19.99 Euro! Das sind fast 15 Cent pro Seite - digital, stofflos! Und nee, ein Lesegerät ist ausdrücklich nicht im Preis inbegriffen, wie Sie jetzt vermuten...

 

Viele weitere Anregungen finden Sie in den Neuerscheinungen Mai 2020.

 

© j.c.schmidt, 2020

 

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