kaliber .38 - krimis im internet

 

Krimi-Auslese 04/2001

 

Tagebuch eines sentimentalen Killers Froh zu sein bedarf es wenig - das beweist der chilenische Autor Luis Sepúlveda mit seiner schmalen, gerade mal achtzig-seitigen Erzählung "Tagebuch eines sentimentalen Killers". Sepúlveda berichtet von einem Auftragskiller, der durch die "verfluchten Fallen des Lebens" stolpert - und diese sind erstaunlicherweise seelischer Natur: An unserem Killer nagt der Liebeskummer. Seit er sich vor drei Jahren in ein junges französisches Mädchen verliebte, verletzt er "die elementare Regel des Alleinseins" und ist zu einem "Killer mit fester Freundin geworden". Wegen eines Hits in Russland hat er seiner "Kleinen" - "was für eine bescheuerte Bezeichnung" - einen Urlaub in Mexiko spendiert, und fiebert nun in Madrid ihrer Rückkehr entgegen. Doch kurz vor ihrer Ankunft erhält der Auftragsmörder zwei Mitteilungen: ein Fax seiner "Kleinen", die sich im Urlaub in einen anderen Mann verliebt habe und nicht nach Madrid komme, und - einen neuen Auftrag.

Ein Profi ist ein Profi - solange er Arbeit und Gefühl trennen kann. Doch an dem wackeren Mann nagt nicht nur Herzeleid, weil er betrogen wurde: Obendrein entwickelt er für sein neues Opfer, ein mexikanischer Funktionär einer kritischen Nicht-Regierungs-Organisation, eine vertrackte Neugierde:

"Ich habe Philantropen noch nie ausstehen können, und der Typ stank förmlich nach modernem Menschenfreund. Ein Minimum an Berufsethos verbietet die Frage nach dem, was die Typen, die man liquidieren soll, sich zuschulden kommen lassen haben; doch als ich das Foto betrachtete, verspürte ich Neugier, und das ärgerte mich."

"Einsam wie ein Schiffbrüchiger" hechelt der Killer seinem Opfer um die halbe Welt hinterher, und in grandiosen Verwicklungen kommen sich nicht nur Killer und Opfer näher, als ihnen beiden lieb sein kann - der Killer wächst auch dem Leser immer mehr ans Herz. "'Mach's gut, Killer, und viel Glück.'", möchte man dem schwermütigen Mann am bitteren Ende nachrufen.

Sepúlvedas kleines Werk beweist wahre Erzählkunst und hat mehr Substanz, als die meisten dickleibigen Schwarten. Literatur braucht eben keine Schaumschlägerei, sondern Bescheidenheit in der Wahl der Mittel. Und gute Ideen - wie etwa: einem Profikiller Tränen andichten, während sein Opfer in spe mit wohlklingender Stimme ein Liebeslied anstimmt.

Luis Sepulveda: Tagebuch eines sentimentalen Killers. (Diario de un killer sentimental). Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2001 (1. Aufl. - München: Hanser, 1999), 80 S., 12.50 DM

 

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Viele brillante Einfälle hat auch der Österreicher Heinrich Steinfest, der mit "Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte" einen ebenfalls beachtenswerten Roman über einen Profikiller geschrieben hat.

Steinfest fabuliert eine sagenhaft delirante Story um ein Mordkomplott in Stuttgart, in das der erfolglose Architekt Robert Szirba zufällig reingezogen wird. Szirba steht seit frühester Jugend unter dem Zwang des Zufügens. Mit "denselben Mitteln der Vertuschung", mit denen andere stehlen, und dem Bewußtsein, sein Tun sei "in keiner Weise weniger anstößig", legt Szirba der Wohlstandsgesellschaft Kuckuckseier ins Nest - er deponiert in einer Süßwarenbude legal erstandene Kaugummis, packt in einem Warenhaus Schokolade in das Schokoladenregal oder schmuggelt gar ein wertvolles, von seiner "Tante mütterlicherseits in England erstandenes Modellauto in eine Anhäufung von Matchbox-Autos". Aber nicht nur Kleinkrämer und Warenhäuser werden Opfer seines Zufügens - sein Meisterstück ist "sicherlich die Unterbringung einer kleinen Handzeichnung von Wilhelm Busch in einer Münchner Galerie".

In einer Buchhandlung am Stuttgarter Hauptbahnhof stößt Robert auf einen Mann, der offenbar unter dem gleichen Zwang steht und teure Bücher auf einem Stapel mit Trivialliteratur legt. Robert beobachtet den Mann, und als eines Tages ein Jugendlicher die Buchhandlung betritt, eine Pistole zieht und auf den Mann feuert, kreuzt Szirba reflexartig den Flug der Kugel und lenkt diese mit der Hand so ab, dass sie den seelenverwandten Menschen verfehlt und in einem arg- und ahnungslosen Passanten einschlägt.

Szirba wird mit seiner Handverletzung ins Spital gebracht, doch im Spital kümmert man sich nicht nur um seine Genesung - ruchlose Killer trachten dem unschuldigen Mann nach seinem Leben. Steinfest hetzt seinen Helden auf eine wild-groteske Flucht - über die defacto selbstverwaltete Psychiatrische Abteilung des Krankenhauses bis zu einem völlig isolierten Raum unterhalb des berüchtigten Knastes von Stammheim; einem Raum, der einmal als Häftlings-Turnhalle dienen sollte und jetzt von Punks besetzt ist. Schließlich trifft Szirba auf einen südafrikanischen Auftragskiller, und an dieser Stelle entlässt Heinrich Steinfest seinen Protagonisten dreist aus dem Text. Vorläufig jedenfalls.

Im zweiten Teil des Romans ist Ludwig Jooß, der Killer aus Südafrika, die erzählende Figur. Jooß soll eine Frau eleminieren, die als Sprecherin eines Konzerns über Wissen verfügt, dessen Veröffentlichung ein recht peinliches Licht auf den Konzernchef werfen würde. Doch Jooß kommt seinen Augtraggebern in die Quere und seinem Opfer bedenklich nahe. Als der wackere Killer schließlich sein Präzisionsgewehr unter dem rotierenden Mercedes-Stern auf der Aussichtsplattform des Stuttgarter Hauptbahnhofs aufbaut, kommt alles anders als man denkt - der klitzekleine Unterschied zweier Ohrläppchen sorgt für die entscheidende Wendung.

Heinrich Steinfest pflegt einen angenehm lustvollen Umgang mit Sprache. Seine bizarre Geschichte würzt er mit vielen aberwitzig-guten Überlegungen zu Gott und der Welt im allgemeinen und den Stuttgartern im besonderen - die etwa in dem "Ruf stehen, nur deshalb kleine Plastikstücke in die Vorrichtung der Einkaufswägen zu schieben, da ihnen das - wenn auch kurzfristige - Verschwinden eines Einmarkstückes zu sehr zu Herzen gehen würde".

Feine Unterhaltung - und in Anlehnung an Martin Luther möchte ich Ihnen noch mit Heinrich Steinfest eine tröstliche Botschaft mitgeben: "Aller Bosheit wird das Maul gestopft".

Heinrich Steinfest: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte.Roman. Originalausgabe. Bergisch Gladbach: Bastei Verlag Lübbe, 2001, 271 S., 14.90 DM

 

Kismet Von Stuttgart weiter nach Frankfurt - und einer weiteren frohen Botschaft: Kemal Kayankaya ist zurück! Nach einer Pause von nicht weniger als 10 Jahren hat Jakob Arjouni mit "Kismet" den vierten Roman um seinen türkischstämmigen Detektiven vorgelegt. Ob man Jakob Arjouni nun wirklich einen Gefallen tut, wenn man ihn permanent mit Raymond Chandler vergleicht, sei mal dahingestellt. Wahr ist: Arjounis Kayankaya-Romane sind frei von jener Miefigkeit, die viele deutsche Kriminalromane auszeichnet. Deshalb erfreut sich die Reihe auch außerhalb Deutschlands großer Beliebtheit: Arjounis Bücher wurden nicht nur ins Englische und andere westeuropäische Sprachen übersetzt, sondern zum Beispiel auch ins Polnische oder Bulgarische.

Aufruhr im Frankfurter Bahnhofsmilieu: Eine neue Gang mit dem bizarren Namen "Armee der Vernunft" drängt in das Geschäft der Schutzgelderpressung. Die "Armee" zeichnet sich nicht nur durch eine beispiellose Brutalität aus - bei geringstem Zahlungsverzug wird dem armen Opfer gleich ein Finger abgeschnitten -, sondern auch durch irrwitzig hohe Forderungen. Außerdem destablisieren die Brutalos das wenn nicht gerade harmonische, so doch weitgehend friedliche Gefüge der albanischen, türkischen und deutschen Organisationen.

Kayankayas brasilianischer Freund Romario betreibt eine kleine Pinte ("Saudade"), die aus gutem Grunde eher wenig frequentiert wird. Als sich die "Armee" mit ihren horrenden Forderungen an Romario wendet und auch er einen Finger einbüßt, eilt Kayankaya seinem Freund zu Hilfe. Ratzfatz liegen zwei seltsam weiß geschminkte Leichen auf dem fleckigen Boden der Gaststätte. Kayankaya verscharrt die Leichen im Fichtenwald, doch wenn man zwei Männer erschießen muss, will man schon wissen, warum.

Eine Ebbelwoi-Connection? Der "Chef ein Fleischimporteur oder Gebrauchtwagenhändler oder Rummelbudenbesitzer"? Eine am Tresen geborene Schnapsidee nach dem Motto "'Ei, mache mer doch aach mal e bissi Mafia'"? - Eine Spur führt Kayankaya zu Doktor Ahrens, einen Tütensuppen-Fabrikanten; eine weitere in die Hinterzimmer kroatischer Heimatvereine und die schäbigen Stuben der trostlosen Sammelunterkünfte für jugoslawische Bürgerkriegsflüchtlinge.

"Kismet" ist ein gut geschriebener und origineller Krimi um den Irrsinn des Nationalismus - auch des deutschen. Der Roman zeichnet sich durch rasante, witzige Dialoge und lebensechte Figuren aus. Arjounis Held Kemal Kayankaya - türkischer Abstammung, aber nach dem frühen Tod der Eltern bei einer deutschen Familie aufgewachsen - ist ein genialer Griff, um unsere Vorurteile aufzuzeigen, diese auch in links-liberalen Kreisen weitverbreiteten "Na-wann-geht's-denn-wieder-in-die-Heimat?"-Leutseligkeit. Der ewige Ausländer, wenn Sie so wollen. In dem Sinne ist Arjounis Roman in Zeiten, in denen integrationsunwillige Dumpfbacken von Leitkultur schwafeln, nicht nur ein gutes, sondern auch ein wichtiges Buch.

Jakob Arjouni: Kismet. Roman. Zürich: Diogenes, 2001, gebunden, 272 S., 36.90 DM, 18.90 Euro..

 

In der Schwebe Unter einem merkwürdigen, weil überhaupt nicht auf den Inhalt referierendem Buchdeckel verbirgt sich ein rasend spannender Wissenschafts-Thriller. "In der Schwebe", so der Titel, und er stammt aus der Feder der amerikanischen Autorin Tess Gerritsen.

Bioalarm in der Schwerelosigkeit: Auf der internationalen Raumstation ISS, die mit einer Geschwindigkeit von 28.000 Stundenkilometern um die Erde rast, läuft ein Experiment aus dem Ruder. Eine an sich harmlose Kultur mit Archäen - bakterienähnliche Mikroorganismen, die aus hydrothermalen Tiefseespalten entnommen wurden - flippt unter den Bedingungen der Mikrogravitation aus. Die Menge der Zellen nimmt unerwartet rapide zu, und die Probe verwandelt sich von einer Flüssigkeit in eine gallertartige Masse.

Unbemerkt kommt ein japanisches Besatzungsmitglied der ISS mit der Masse in Kontakt, erkrankt und stirbt binnen kurzer Zeit einen elendigen Tod. Um Aufschluss über die Todesursache zu erhalten, soll die Leiche zur Autopsie zur Erde zurückgebracht werden. Doch ein Space-Shuttle macht man nicht startklar, wie man mal eben seinen Wagen aus der Garage holt. Wertvolle Zeit verrinnt, und die Kultur wächst und gedeiht weiter - in der Leiche des Astronauten, die sich nach wie vor mit fünf weiteren Besatzungsmitgliedern in der Station befindet...

Die Chimäre in der griechischen Mythologie ist ein bizarres, feuerspeiendes Wesen, dass aus sich aus drei unterschiedlichen Organismen zusammensetzte: Die Kreatur hatte den Kopf eines Löwen, den Körper einer Ziege und den Schwanz einer Schlange. In der Biologie bezeichnet eine Chimäre eine Lebensform, die sich von einem Wirt zum nächsten bewegt, und sich in jedem Wirt um ein Stück DNS bereichert. Die Chimäre muss nicht den langen Weg der Evolution gehen, um sich an die Umwelt anzupassen, sondern zwackt diese Fähigkeit von seinem Wirt ab. Gegen Viren und Bakterien sind - zumindest theoretisch - Gegenmittel denkbar. Gegen Chimären auch - nur dass diese Gegenmittel auch den Wirt töten, deren DNS sich die Chimäre einverleibt. Was es bedeutet, wenn sich das Wesen erst einmal auf den Menschen übertragen hat, braucht man nicht weiter zu erläutern...

Tess Gerritsens Roman ist erschreckend gute Unterhaltung. Sie hat ein phantastisches Szenario entwickelt und bringt ihre Geschichte wegen ihrer immensen Detailkenntnis glaubhaft rüber - nicht nur medizinisches Wissen, das die ehemalige Internistin gleichsam von Haus aus mitbringt. Eindrucksvoll sind vor allem ihre genauen Raumfahrtkenntnisse: Beschreibt Tess Gerritsen das Andock-Manöver eines Shuttles an die Station, kann sie jede noch so kleine Feder benennen, die bei diesem heiklen Begattungs-Tanz der Giganten beansprucht werden.

Wenn Sie das Buch lesen, empfehle ich Ihnen: Halten Sie ein Handtuch bereit, damit Sie sich den Angstschweiß abreiben können. Ach was, lesen Sie den Thriller am besten gleich in der Badewanne.

Tess Gerritsen: In der Schwebe. (Gravity). Roman. Aus dem Amerikanischen von Andreas Jäger. Deutsche Erstausgabe. München: Blanvalet, 2001, 440 S., 16.90 DM .

 

© j.c.schmidt, 2001

 

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