kaliber .38 - krimis im internet

 

Krimi-(Vor-)Auslese 03/2021

 

Montecrypto Turbulent geht's zu - rauf in schwindelerregende Höhen, und zack!, wieder runter ins Tal der Tränen. Über Nacht soll Multi-Unternehmer Elon Musk einen zweistelligen Milliardenbetrag seines privaten Vermögens eingebüßt haben. Schuld ist der Bitcoin, die berühmteste der mittlerweile mehr als 8.000 Kryptowährungen. Was genau Kryptowährungen sind, wie Blockchain-Technologie und digitale Signaturen funktionieren, haben die wenigsten von uns verstanden - ich schon gar nicht! -, aber das Daten-Geld beinflusst Kapitalströme und damit unser Leben. Montecrypto heisst ein brandaktueller Thriller von Tom Hillenbrand (Kiwi), der auf unterhaltsam-spannende Weise in den abstrakten Stoff einführt: Der spleenige Start-up-Unternehmer Gregory Hollister hat sein Vermögen größtenteils in Bitcoins angelegt. Als er bei einem Unfall ums Leben kommt, beginnt die Suche nach dem digitalen Schatz, den der kalifornische Unternehmer gut versteckt hat. Das milliardenschwere Vermögen lockt nicht nur professionelle Schatzsucher an, sondern weckt auch das Interesse ausländischer Geheimdienste, des FBI und der Mafia. Privatdetektiv Ed Dante, von der Schwester des Verstorbenen engagiert, erkennt, dass Hollisters Hinterlassenschaft aus deutlich mehr als aus einem Haufen digitaler Münzen besteht. "Montecrypto" ist ein Thriller über die neue internationale, digitale Finanzwirtschaft. Dass der Autor Tom Hillenbrand sich mit komplizierten technischen und digtitalen Fragen auskennt und diese spannend in Literatur umsetzen kann, hat er schon mehrfach gezeigt, etwa mit den Science-Fiction- bzw. near-future-Thrillern "Drohnenland" und "Hologrammatica". Hillenbrands "Montecrypto" ist eine erstklassige Gelegenheit, sich in das wichtige Thema "digitale Währungen" einzuarbeiten.

 

Die Expertev Da ist er endlich, der mehrfach verschobene Thriller Die Experten der Autorin Merle Kröger (Suhrkamp). Und prall ist er geworden - knapp siebenhundert eng bedruckte Seiten nach mehr als fünf Jahren Arbeit. Der Stoff: Ägypten zu Beginn der 60er Jahre. Präsident Nasser verpasst seinem Land ein ambitioniertes Rüstungsprogramm, mit dem er Ägypten an die Spitze der afrikanischen Staaten bringen will. Helfen sollen dabei ausländische Ingenieure - vor allem auch "Experten" aus Deutschland, die sich schon in den Rüstungsprojekten der Nazis bewährten. Die Welt ist im Umbruch, und die Veränderungen werden in Kairo wie unter einem Brennglas sichtbar. Die junge Rita Hellberg, deren Vater für Präsident Nasser Flugzeuge baut, geniesst das Leben in der pulsierenden Millionen-Metropole - bis sie allmählich merkt, dass sie sich im Zentrum eines blutigen Konfliktes befindet, der mit allen Mitteln ausgefochten wird. Krögers Roman "Die Experten" ist nicht konventionell runtererzählt, sondern - spannend das! - aufgebaut in drei Fotoalben mit Bildern der Jahre 1961 bis 1970: Jedes Kapitel beginnt mit der kurzen Beschreibung einer Fotografie, berichtet von den Umständen, die zur Entstehung des Bildes führten, und nähert sich so der Handlung an. Wir erwarten also keinen "klassischen Thriller", sondern freuen uns auf "ein breit angelegtes, klug inszeniertes, lebendiges und hochspannendes Panorama mit Thrillerelementen" (Frank Rumpel, SWR). Es gibt leider kein Inhaltsverzeichnis, aber am Ende des Buches findet sich ein Text von Stefanie Schulte Strathaus, deren Familie als Blaupause für die Familie Hellberg im Roman diente, ein Nachwort der Autorin Merle Kröger und ein mehrseitiges Quellenverzeichnis: Wenn das Buch schon collagenhaft aufgebaut ist, darf man sich auch eingeladen fühlen, an unterschiedlichen Ecken rumzuknuspern.

 

Ciros Versteck Berührendes bei Folio: Ciros Versteck heisst ein Roman des italienischen Filmemachers und Schfitstellers Roberto Andò (dt. von Verena von Koskull). Der Text erzählt die Geschichte des zehnjährigen Ciro aus Palermo, der auf der Straße einer älteren Dame die mit Geld prall gefüllte Handtasche zu klauen versucht. Die Dame stürzt und verletzt sich schwer. Was der kleine Ciro zu spät erkennt: Bei seinem Opfer handelt es sich um die Mutter des örtlichen Camorra-Chefs. In seiner Not versteckt sich Ciro bei seinem Nachbarn, dem Klavierlehrer Gabriele Santoro, "ein ruhiger, introvertierter Mann, der für die Musik und die Poesie brennt, dem es aber nicht leichtfällt, seine Beziehungen zu pflegen", wie ihn der Verlagstext charakterisiert. In der erzwungenen Isolation entwickelt sich eine spannende Beziehung zwischen dem Straßenjungen und dem feingeistigen Pianisten - Ciro, der immer mit Gewalt konfrontiert war, findet sich zunehmend zurecht in der fremden Welt seines Verstecks, und Gabriele entwickelt eine väterliche Zuneigung für den Jungen. Nicht der Stoff, der einem gefälligen, glücklichen Ende entgegenstrebt, sondern eher zur großen Tragödie einlädt. Roberto Andò habe mit Ciros Versteck "einen reflektierten, mehrschichtigen und poetischen Roman" gechrieben, schreibt Angelo Algieri im Freitag. Wir freuen uns auf die Lektüre - und werden den Text mal daraufhin abklopfen, ob er auch funktioniert, wenn nicht Palermo, sondern Berlin Neukölln die Kulisse des Dramas ist. Krass, Digga!

 

Ravna - Tod in der Arktis Fast übersehen hätten wir Ravna - Tod in der Arktis von Elisabeth Herrmann, der im Randomhouse-Imprint cbj erscheint, der Abteilung für Kinder- und Jugendbücher. Nein, Sie müssen ihre Messlatte nicht nach unten korrigieren, denn das Buch ist tatsächlich ein All-Age-Roman, vermutlich ohne explizite Sex- und Gewaltdarstellung. Schauplatz ist die arktische Stadt Vardø, auf einer Insel in der Barentsee am äußersten nordöstlichen Rand Norwegens gelegen. Die Tageslänge im November, so erfahren wir am Anfang des Buches, beträgt hier gerade mal eineinhalb Stunden. Ravna Persen, die Titelfigur dieses arktischen Krimis, ist eine achtzehnjährige Praktikantin bei der lokalen Polizei. Wegen ihrer Jugend, ihres Geschlechts und ihrer ethnischen Zugehörigkeit - Ravna ist Samin - hat sie einen schweren Stand bei den Kollegen. Als ein reicher Großgrundbesitzer ermordet wird, meint Ravna am Tatort einen Strich in der Erde entdeckt zu haben, der nach samischer Legende die Wanderseelen daran hindert, zu den Lebenden zurückzukehren. Ein bisschen Krimi, ein bisschen Mystik, ein bisschen Coming-of-Age und - vermutlich - ein bisschen Romantik, das Ganze mit einer gewissen epischen Breite vorgetragen (knapp 460 Seiten) - das sind Zutaten, von denen sich meist ein weibliches Publikum angesprochen fühlt. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass Männer keine Sondergenehmigung beantragen müssen, um den Roman zu lesen. Könnte sich lohnen...

Ravna - Tod in der Arktis Und sonst? Von der wunderbaren Simone Buchholz gibt's den zehnten Band ihrer Reihe um die Staatsanwältin Chastity Ryan, die auf so herzerweichende Weise neben sich selbst stehen kann. In River Clyde (Suhrkamp nova) nutzt Chastity ihren Zwangsurlaub nach dem katastrophalen Ausgang der Geiselnahme am Ende des letzten Bandes "Hotel Cartagena" und schwirrt ab nach Schottland. In Glasgow, der Geburtstadt ihres Ur-Urgroßvaters, will sie die Geheimnisse ihrer eigenen Familie ergründen und wird konfrontiert mit "einem Panorama aus Gewalt und Verlust". Im Innern hat Chastity noch Beton angerührt, aber, keine Sorge, der weicht auf, ihre "Hände werden zu Blättern" und ihr "Herz (...) zu Gemüse". Poesie und Krimi und der ganz spezielle Buchholz'sche Blick - I love it!

 

Krumholz Mit dem Schweizer Schriftsteller Flavio Steimann kehren wir erzählerisch zurück ins frühe 20. Jahrhundert, zum Übergang in die Moderne. Krumholz heisst der neue Roman (Edition Nautilus), der von einem realen Verbrechen aus dem Jahre 1914 inspiriert ist: Eine gehörlose junge Frau, ob der körperlichen Beeinträchtigung als Kind in "Armen- und Idioten-Anstalten" mehr verwahrt denn erzogen, trifft auf einen nicht minder verstoßenen und vewahrlosten Kleinkriminellen, der zurückgezogen in den Wäldern haust, und das Schicksal nimmt seinen grausigen Lauf. "Seine Prosa ist schlackenlos, welthaltig, dringlich, von elementarer Wucht und zugleich von sublimer Musikalität", schrieb Manfred Papst in der NZZ am Sonntag über Steimanns Roman "Bajass" (2014), der ebenfalls zurückführt an den Anfang des 20. Jahrhunderts, und wünschte dem "Solitär" des schweizerischen Literaturbetriebs "viele tausend unerschrockene Leser". Mit mir jedenfalls hat Flavio Steimann einen weiteren...

 

Der absolute Beweis Warum denn nicht im Regal mal gaaaanz weit nach oben greifen? Um nichts weniger als einen unumstößlichen Beweis für die Existenz Gottes geht es in Peter James neuen Thriller Der absolute Beweis (Fischer SCHERZ, dt. von Irmengard Gabler). Investigativ-Reporter Ross Hunter erhält einen eindringlichen Anruf des Wissenschaftlers Dr. Cook, der behauptet, einen eindeutigen Beweis für die Existenz Gottes gefunden zu haben. Da Ross Hunter ein seriöser Reporter sei, solle er die Botschaft in die Welt tragen, die für Gläubige aller Konfessionen wie für Ungläubige in aller Welt enorme Konsequenzen hätte. Als der Reporter weiter recherchiert, wird ihm schnell klar, dass es einige Menschen gibt, die die Existenz Gottes lieber nicht bewiesen haben möchten und auch vor Mord nicht zurückschrecken. "Totale Spannung, Action und eine Verschwörung auf globaler Ebene", verspricht der Verlag. Au fein - wir freuen uns auf kurzweiligen Krawall!

 

Zandschower Klinken Ganz ohne Krawall - und Tote - gehts zu in Zandschower Klinken des Leipziger Schriftstellers Thomas Kunst (Suhrkamp). Das Buch schlägt einen sofort mit dem geilem Cover (ein Plastik-Schwan, der einsam auf einem See dümpelt) und dem bizarren Titel in den Bann (geben Sie mal nur den Titel ins Amazon-Suchfeld ein und schauen Sie sich den Unsinn an, der als Suchergebnis präsentiert wird - Stand 26.02.2021). Worum geht's? Bengt Claasen hat so ziemlich alles verloren und macht sich auf zu neuen Ufern. Der Zufall führt ihn in das Kaff Zandschow, irgendwo am nordöstlichen Rand Mecklenburg-Vorpommerns gelegen. Außer einem Feuerlöschteich und "Getränke-Wolf" hat Zandschow augenscheinlich nichts zu bieten. Doch der Eindruck täuscht - die Bewohner erweisen sich als eine eigentümliche Kolonie exotischer Wesen, die nicht bereit sind, sich den Verhältnissen zu beugen, sondern rund um den Teich mit ungemein viel Fantasie ein exotisch-verrücktes Leben führen - "trotzig und stur, frei und eigensinnig", wie es im Verlagstext heisst. Schon aus Solidarität mit den Figuren des "Zandschower Klinken" ist Lektüre daher Pflicht!

 

Der Pass Etwas versteckt in der ZDF-Mediathek findet sich die achtteilige Thriller-Serie Der Pass von Cyrill Boss und Philipp Stennert. Die Eigenproduktion von Sky-Deutschland lief bereits 2019 in der Glotze - zu Beginn des Jahres im Bezahlsender, im Dezember 2019 dann im Free-TV auf ZDF -, war mir aber damals entgangen. Julia Jentsch und Nicholas Ofczarek spielen in diesem bildgewaltigen Epos ein deutsch-österreichisches Ermittlerduo auf der Hatz nach einem Killer. Es beginnt bizarr: mit einer nackten Leiche auf einem Grenzstein in den Bergen - der Kopf diesseits, der blanke Popo jenseits der Grenze. Weitere Kadaver folgen, und der anfänglich widerwillige Inspektor Gedeon Winter und seine Kollegin Ellie Stocker aus Berchtesgaden führen gemeinsam eine deutsch-österreichische Sonderkommission. Die Morde stehen in Verbindung mit der mythischen Krampus-Figur, die zum Adventsbrauchtum des Alpenraums gehört: Während Nikolaus die artigen Kinder beschenkt, werden die bösen vom Krampus bestraft. "Der Pass" (so wird übrigens auch die Gruppe genannt, die aus Nikolaus, Krampus und weiteren Begleitern besteht) erzählt eine weitgehend koventionelle Mordgeschichte mit ein paar politischen Implikationen. Zu einem Ereignis wird der Thriller durch die Hauptdarsteller: Julia Jentsch als Kommissarin Ellie Stocker und Nicholas Ofczarek als Inspektor Gedeon Winter, der wie ein Berserker mit vielen Dämonen ringt (unvergesslich sein morgendlicher Auftritt im Wirtshaus, wo er in seinem immer gleichen zerknitterten Sakko einem Wolfgang Ambros-Song aus der Musik-Box lauthals mitgrölt!). Nicht gerade unkonventionell, aber wirklich feines Fernsehen aus der Welt der Berge und Wälder!

 

Tod von Freunden Auch sehenswert die achtteilige ZDF-Serie Tod von Freunden, die eher eine spannende Gruppenanalyse denn ein Krimi ist: Die Familien Küster und Jensen sind seit langen Jahren nicht nur eng befreundet, sondern sie leben zusammen auf einer kleinen Insel. Hier im deutsch-dänischen Grenzbereich haben sie sich ein Idyll aus gemeinschaftlicher Fürsorge und Zuneigung geschaffen. Als bei einem Segeltörn der Schüler Kjell Jensen über Bord geht und in der Nacht auf dem Meer spurlos verschwindet, scheint es zunächst, als stünden beide Familien auch in dieser Tragödie unverbrüchlich zusammen. Doch das schöne Bild bekommt langsam Risse: Geheimnisse und Verdächtigungen und Lügen entfalten ihre toxische Wirkung, die immanenten Fliehkräfte werden immer stärker, bis es schließlich das ganze Ensemble zu sprengen droht. Soweit, so spannend. Das Besondere an dieser Serie, zu der Friedemann Fromm das Drehbuch schrieb und Regie führte: Jede der acht Episoden beleuchtet das Geschehen aus der Perspektive einer anderen Figur - die Geschichte schreitet mal voran, geht dann wieder zurück oder macht ein paar Schritte seitwärts, und immer ergibt sich ein neuer Aspekt, öffnet sich dem Zuschauer ein neuer Blick. Das ist wirklich gut und höchst kurzweilig gemachtes Fernsehen, mit vielen wunderbaren deutschen und dänischen Schauspielern.

 

Totgeschwiegen Schnell noch Applaus für Totgeschwiegen, ein feiner Fernsehfilm zu einem spannenden Sujet: Wenn Kinder zu Tätern werden (nochmals ZDF). Drei eng befreundete Teenager auf Feiertour legen sich am späten Abend im U-Bahnhof mit einem Obdachlosen an. Der Streit eskaliert, es kommt zur Katastrophe, der Obdachlose verliert sein Leben. Die genauen Umstände des Dramas bleiben im Dunkeln - ein Unfall? Notwehr? Mord? Auch die Eltern dringen nicht zu ihren Kindern vor - einigen sich aber darauf, das Geschehen zu vertuschen, und die behüteten Kids vor lebenslangen Konsequenzen der Tat zu schützen. Doch nicht alle sind mit der Strategie einverstanden - und die Teenager selbst drohen unter der Last der Ereignisse zu zerbrechen. "Totgeschwiegen" - Drehbuch von Gwendolyn Bellmann und Franziska Schlotterer, die auch die Regie übernahm - behandelt facettenreich ein moralisches Dilemma und führt souverän durch 90 spannende Minuten zu einem überzeugenden Ende. Aus einem tollen Ensemble ragt Laura Tonke heraus, die die Schwere des Alltags als alleinerziehende Mutter fast greifbar macht.

 

Viele weitere Anregungen finden Sie in den Neuerscheinungen März 2021.

 

© j.c.schmidt, 2021

 

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